Karlspreisträger Guterres im Interview : „Ich mache mir Sorgen und bin frustriert“
Exklusiv New York/Aachen Nein, wütend sei er nicht, sagt António Guterres. Doch wenn der UN-Generalsekretär, der am Himmelfahrtstag in Aachen mit dem Karlspreis ausgezeichnet wird, über die großen Herausforderungen unserer Zeit spricht, wirkt er ausgesprochen nachdenklich.
Seine Hoffnung setzt der 70-Jährige in die Jugend. Der Portugiese antwortet auf die Fragen unseres Redakteurs Marco Rose.
Herr Generalsekretär, Europa wählt am Sonntag. Die EU ist derzeit in einer ziemlich schlechten Verfassung. Nationalisten und Populisten haben weiter großen Zulauf. Machen Sie sich Sorgen?
António Guterres: Es ist klar, dass eine starke Europäische Union nicht nur für diesen Kontinent unverzichtbar ist, sondern für die ganze Welt als Brückenbauer für Demokratie, Menschenrechte und sozialen Zusammenhalt eintritt und ein Motor für Wohlstand ist. Die EU ist ein starker Partner der Vereinten Nationen in den Bereichen Frieden und Sicherheit, Menschenrechte und Entwicklung. Gleichzeitig mache ich mir Sorgen, dass Hassreden den Mainstream erreichen und sich wie ein Lauffeuer über Soziale Medien und Radio verbreiten.
Wir erleben deren Ausbreitung sowohl in liberalen Demokratien, als auch in autoritären Staaten – nicht nur in Europa, sondern in vielen Teilen der Welt. Ich glaube, dass unsere Gesellschaft geschwächt wird, wenn Menschen aufgrund ihrer Rasse, Religion oder ethnischen Zugehörigkeit körperlich, verbal oder in Sozialen Medien angegriffen werden. Wir wissen, dass die Sorgen der Menschen um ihre Sicherheit, um einen angemessenen Lebensunterhalt, um Bildung und Gesundheit, angesichts der Globalisierung stärker zunehmen und dass diese Ängste Populisten stärken.
Aber wir müssen die Politik der Angst und Spaltung überwinden – diese negative, egoistische Politik, die ausnahmslos zu Feindseligkeit, Hassrede, Nationalismus führt. Die Geschichte zeigt anschaulich, wohin diese Abwärtsspirale führt. Vielmehr sollten wir gemeinsam eine Politik anstreben, die die Bürger einbezieht und befähigt. Wir müssen auf eine Politik hinarbeiten, die auf Menschenrechten, Inklusion und Solidarität beruht. Populisten und Nationalisten sprechen oft von Souveränität, aber wahre Souveränität wird nur erreicht, wenn die Menschenrechte und das Wohlergehen aller verwirklicht werden.
Durch Migration, Handel und Kommunikation werden alle Gesellschaften multiethnischer, multikultureller und multireligiöser. Diese Vielfalt bereichert uns. Wenn wir jedoch wollen, dass Vielfalt zum Erfolg wird, müssen wir in den sozialen Zusammenhalt investieren. Deshalb brauchen wir ein erneutes Bekenntnis zu den Gründungszielen des europäischen Projekts, die vor mehr als 60 Jahren im Vertrag von Rom sehr klar umrissen wurden. Sie beschrieben die Notwendigkeit einer engeren Union nicht um ihrer selbst willen, sondern um Demokratie und Menschenrechte zu stärken, weitere Konflikte zu verhindern und den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt sicherzustellen.
Welche Bedeutung hat der Karlspreis für Sie? Können solche Ehrungen etwas bewegen?
Guterres: Es ist mir eine große Ehre, den Karlspreis zu erhalten, und ich danke der Stadt Aachen für diese Anerkennung. Ich glaube fest an das, was den Preis ausmacht – Einheit im Streben nach gemeinsamen Fortschritten in Europa und darüber hinaus. Als Unionsbürger und engagierter Europäer ist dieser Preis für mich von besonderer Bedeutung. Ich glaube, wir brauchen diese Einheit und dieses Bekenntnis zu gemeinsamen Werten mehr denn je. Diese Ideale, die dieser Preis verkörpert, trage ich jeden Tag in meiner Arbeit als Generalsekretär in mir.
Als Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen haben Sie bereits für Menschlichkeit und Fairness im Umgang mit Flüchtlingen in Europa geworben. Deshalb werden Sie unter anderem in Aachen ausgezeichnet. Europa ist jedoch noch weit davon entfernt, das Problem tatsächlich zu lösen. Wie kann es weitergehen?
Guterres: Es ist klar, dass viele Länder, auch in Europa, Flüchtlinge aufgenommen haben, und ich bin dankbar für ihre Großzügigkeit und ihre offenen Türen. Insbesondere Deutschland hat 2015 vorbildlich seine Pforten geöffnet. Andere Länder haben andere Ansätze gewählt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass Länder auf der ganzen Welt ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen. Manchmal wird vergessen, dass die Flüchtlingskonvention von 1951 zum Schutz der Millionen vertriebener Europäer in der Nachkriegszeit ins Leben gerufen wurde. Während viele Europäer echte Solidarität mit den heutigen Flüchtlingen gezeigt haben, ist noch mehr erforderlich. Es ist auch erwähnenswert, dass es manchmal die ärmsten Länder in Afrika und Asien sind, die die größte Solidarität gegenüber Flüchtlingen und Migranten gezeigt haben.
Wie kann denn ein Lösungsansatz aussehen?
Guterres: Ich habe Lösungen für einen fairen Umgang mit den Flüchtlingen in der Welt gesucht, sowohl als UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, als auch jetzt als Generalsekretär. Ich glaube, die Welt rückt näher an Lösungen heran, da wir uns sowohl mit Flüchtlingen als auch mit Migranten befassen müssen: Erst im vergangenen Jahr wurde der Globale Pakt für sichere und geordnete Migration zusammen mit dem Globalen Pakt für Flüchtlinge verabschiedet. Der Globale Pakt für Migration ist ein nicht rechtsverbindliches Abkommen, das die grundlegenden Prinzipien unserer globalen Gemeinschaft bekräftigt – einschließlich der nationalen Souveränität und der universellen Menschenrechte.
Gleichzeitig soll er einen Weg zu einem humanen und vernünftigen Umgang mit den Herkunftsländern weisen. In einer Zeit, in der internationale Zusammenarbeit wichtiger denn je ist, unterstreicht dies die Notwendigkeit, zukünftige Trends zu antizipieren, von den Arbeitsmärkten bis zu den Auswirkungen des Klimawandels. Und es unterstreicht die Notwendigkeit, mehr legale Migrationspfade zu entwickeln, die auch dazu beitragen würden, den Menschenhandel und die Ausbeutung zu bekämpfen. Ich glaube, wir können auf diesen Errungenschaften aufbauen, damit alle Regierungen einen fairen und würdigen Umgang mit Flüchtlingen und Migranten gewährleisten können.
Flüchtlinge können derzeit kaum aus Seenot im Mittelmeerraum gerettet werden. Welchen Einfluss hat ein Generalsekretär der Vereinten Nationen, um hier Veränderungen herbeizuführen?
Guterres: Es ist von größter Bedeutung zu betonen, dass die Rettung von Menschenleben immer oberste Priorität haben muss. Der Verlust von Menschenleben auf See ist größtenteils auf die Verwendung von nicht seetüchtigen und überfüllten Schiffen durch Schleuser zurückzuführen. Schleuser profitieren weiterhin von dem Mangel an sicheren und legalen Wegen für die Migration und nutzen die Verzweiflung derer, die vor Konflikten oder Verfolgung fliehen. Der Migrationspakt bietet uns internationale Rahmenbedingungen für ein humanes und vernünftiges Handeln zum Nutzen der Herkunfts-, Transit- und Zielländer sowie der Migranten und Flüchtlinge selbst.
Wir haben bereits einen rechtlichen Rahmen für die Rettung auf See und die Behandlung von Flüchtlingen und Migranten: internationales Seerecht, internationales Flüchtlingsrecht und internationales Menschenrecht. In der Praxis setzen sich die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen und die Internationale Organisation für Migration weiterhin für den Schutz der Rechte von Migranten und Flüchtlingen auf hoher See ein. Es gibt zwei Aspekte, die von unmittelbarem Interesse sind: Zum einen muss die Ausschiffung gemäß den internationalen Regeln erfolgen. Zweitens soll die Bekämpfung von Schmugglern und Menschenhändlern wirksamer sein, um Situationen zu vermeiden, in denen solche Schmuggler und Menschenhändler die Menschenrechte von Migranten verletzen können.
Europa steht weltweit für ein Wertesystem, für Grundrechte, für Frieden. Hat Europa seine Position als moralische Autorität nicht längst verloren?
Guterres: Die EU bleibt trotz aller Herausforderungen ein Symbol für Frieden und Versöhnung, für Fortschritt und Stabilität, sowohl innerhalb als auch außerhalb ihrer Grenzen. Die Europäische Union ist eine wichtige Säule des Multilateralismus und eine Hochburg der Menschenrechte. Die Achtung und Förderung der Menschenrechte ist in EU-Programmen und politischen Initiativen auf der ganzen Welt verankert, und die EU ist auch ein wichtiger Partner bei der Unterstützung der Konfliktverhütungsagenda der Vereinten Nationen und der friedlichen Beilegung von Konflikten auf der ganzen Welt mit einem starken institutionellen Rahmen der Vereinten Nationen und der EU für den Frieden und Sicherheit.
Ich glaube, der wichtigste Beitrag, den Europa zur globalen Zivilisation geleistet hat, sind die Werte der Aufklärung, das Primat der Vernunft, Toleranz. Und wir sehen, dass diese Werte mehr denn je gebraucht werden. Gleichzeitig ist klar, dass wir mit so komplexen Herausforderungen wie dem Klimawandel, den massiven Fluchtbewegungen und dem globalen Terrorismus nur durch eine starke internationale Zusammenarbeit mit starken multilateralen Institutionen fertig werden können. Folglich brauchen wir unbedingt ein starkes und geeintes Europa, um den Multilateralismus als ein Instrument zu stärken, das für die Herausforderungen unserer Zeit unbedingt erforderlich ist.
Sie haben vor einigen Wochen den Jahresbericht zum Klimawandel vorgelegt. Der Erde geht es nicht gut, sagten Sie. Dennoch ignorieren die Führer der Welt die Gefahren für den Planeten noch immer. Macht Sie das wütend?
Guterres: Ich bin nicht wütend, aber ich mache mir Sorgen und bin frustriert. Wir kämpfen gegen die Folgen des Klimawandels und verlieren dieses Rennen. Ich bin gerade aus dem Pazifik zurückgekehrt, wo der Klimawandel für einige Inselstaaten eine existenzielle Bedrohung darstellt. In Fidschi, Tuvalu und Vanuatu habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie sich der Klimawandel auf die Menschen auswirkt – nicht in fünf oder 20 Jahren, sondern heute. Ich habe bei jeder Gelegenheit, die ich dort hatte, diese drei Botschaften an die globalen Führer betont: Erstens brauchen wir dringen eine Kohlendioxidsteuer.
Zweitens müssen wir aufhören, fossile Brennstoffe zu subventionieren und Steuergelder zu verschwenden. Weil unsere Form der Energiegewinnung Wirbelstürme verursacht, Dürre verbreitet und Gletscher schmilzt. Schließlich müssen wir bis 2020 aufhören, neue Kohlekraftwerke zu bauen, und diesbezüglich begrüße ich das Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Deutschland bis 2050 klimaneutral zu machen. Dies ist wirklich eine zukunftsweisende Entscheidung. Wir haben dieses Paradoxon: Die Realität erweist sich als schlimmer als von Wissenschaftlern vorhergesehen, und alle letzten Indikatoren zeigen dies. Die Wissenschaft ist eindeutig, Jugend und Zivilgesellschaft haben mobilisiert, viele Teile des Unternehmenssektors haben mobilisiert. Was fehlt, ist ein anhaltender politischer Wille der Staats- und Regierungschefs auf der ganzen Welt.
Die Wissenschaft sagt uns, dass es immer noch möglich ist, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, wenn wir drastische, beispiellose Maßnahmen ergreifen. Wir müssen viel schneller vorankommen und entschlossenere Schritte unternehmen. Die Pariser Abkommen waren ein erster Schritt in diese Richtung, aber wir müssen konkrete Schritte einleiten, bevor es zu spät ist. Die heutigen Staats- und Regierungschefs, von denen viele zur Zeit von Paris nicht im Amt waren, müssen zeigen, dass sie es ernst meinen, mit dem Klimawandel umzugehen, und sich an die Verpflichtungen halten, die ihre Länder – und ihre Bürger – in Paris eingegangen sind. Ich hoffe sehr, dass andere den Ausführungen von Bundeskanzlerin Merkel und anderen Führungspersönlichkeiten folgen, wenn sie zum Klimagipfel, den ich im September einberufe, nach New York kommen. Ich bitte sie, einen konkreten Plan vorzulegen, nicht nur eine Rede.
Sie haben die junge schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg bereits persönlich getroffen. Was denken Sie über ihre Bewegung „Fridays for Future“?
Guterres: Wir haben uns in Katowice während der letzten Klimakonferenz getroffen und ich war beeindruckt von der Stärke ihrer Überzeugungen. Ich denke, dass sie ein inspirierendes Beispiel dafür ist, was junge Menschen tun, um die Welt zu verändern. Ihre Entschlossenheit und die der jungen Leute überall sind genau die Art von Energie, die wir brauchen, um den Druck auf die politischen Führer aufrechtzuerhalten. Junge Menschen mobilisieren heutzutage große Massen. Sie machen schließlich einen bedeutenden Teil der Bevölkerung aus, und zu Recht sorgen sie sich um ihre Zukunft und rufen uns auf, zu handeln.
Jeden Freitag erzählen Tausende von Schulkindern der Welt, wie sie sich fühlen und was sie gegen den Klimawandel tun wollen. Ich habe vielen jungen Menschen in vielen Teilen der Welt zugehört, von Tunesien über China bis hin zu den USA. Dieses Thema ist für sie äußerst wichtig, da es ihr Leben beeinflussen wird und in vielen Fällen bereits beeinflusst. Jedes Mal, wenn ich mit ihnen spreche, werde ich daran erinnert, warum wir bei den Vereinten Nationen Regierungen und Unternehmen auffordern, ihre Klimaschutzmaßnahmen zu beschleunigen, und ich ermutige junge Menschen, sich weiterhin auf diesen Kampf einzulassen, weil sie uns helfen können, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Greta Thunberg zeigt uns, dass man nicht alt sein muss, um Führungskräfte zur Rechenschaft zu ziehen. Ich hoffe und glaube, dass es viele junge Menschen gibt, die ihrem Beispiel folgen und uns den ganzen Weg nach vorne zeigen können.
Haben Sie eine besondere Botschaft für die Aachener?
Guterres: Ein herzliches Dankeschön für diese Ehre und ihren unermüdlichen Einsatz für das Erbe Karls des Großen: ein geografisch und geistig geeintes Europa! Als portugiesischer und europäischer Politiker hatte ich immer das Gefühl, dass es sowohl für Europa als auch für die Welt sehr wichtig ist, ein starkes und geeintes Europa zu haben. Aber ich habe es nie so deutlich gespürt wie jetzt als Generalsekretär der Vereinten Nationen. Als ich Student war, beherrschten die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion unseren Planeten. Jetzt leben wir in einer chaotischeren Welt, in der die Machtverhältnisse unklar geworden sind, und wir brauchen dringend einen Rahmen, um zu wiederbelebten multilateralen Formen des Regierens zu finden.
In diesem Zusammenhang werden das Bedürfnis nach einem starken und geeinten Europa und das Bedürfnis nach europäischen Werten noch dringlicher. Darüber hinaus ist die Geschichte der EU auch eine Geschichte der Überwindung von Konflikten und Spaltungen, des Aufbaus von Vertrauen und des gegenseitigen Respekts aus Widrigkeiten und sogar aus Hass. Es ist mir eine große Ehre, aber auch eine Verantwortung, diese äußerst prestigeträchtige Auszeichnung zu erhalten. Ich werde alles tun, um sicherzustellen, dass das, was ich jetzt tue, immer denselben Werten treu bleibt, die mich während meiner gesamten Karriere inspiriert haben – Aufbau und Förderung eines demokratischen, geeinten Europas, in dem die Menschenrechte Vorrang haben und das Länder inspiriert, über ihre eigenen Grenzen hinaus.