Köln : Jörg Schönenborn: „Unsere Umfragen sind keine Wahlvorhersagen“
Köln In weniger als drei Monaten ist die Bundestagswahl. Die Ergebnisse des ARD-DeutschlandTrend werden kurz vor der Wahl häufiger veröffentlicht. Beeinflussen die Umfragetrends die Wähler in ihrer Meinungsbildung? Was ist die Aufgabe des ARD-DeutschlandTrend? Studierende der FH Aachen, Studiengang Communication and Multimedia Design, trafen WDR-Chefredakteur Jörg Schönenborn in Köln.
Herr Schönenborn, wie bereiten Sie sich im Vorfeld auf die Sendung ARD-DeutschlandTrend vor? Wie sieht die redaktionelle Arbeit aus?
Schönenborn: Das Wichtigste ist das, was vor dem Schreiben des Fragebogens passiert. Die Fragen müssen so gestellt werden, dass die Ergebnisse die politische Stimmung in Deutschland beschreiben. Wir beobachten den politischen Alltag, lesen Zeitung und sehen uns Nachrichtensendungen an, dann werden die Fragen formuliert.
Beim ARD-DeutschlandTrend geht es nicht nur um politische Themen. Wie werden andere Themen ausgewählt?
Schönenborn: In der Regel geht es um politische Themen. Wenn etwas ganz Überragendes, Stimmungsprägendes passiert, zum Beispiel eine zugespitzte Duellsituation wie zwischen Bayern München und Borussia Dortmund, dann machen wir Ausnahmen. Ansonsten geht es wirklich ausschließlich um die Themen, die das Wahlverhalten am Ende mit beeinflussen können.
Einige Umfrageergebnisse, die kurz vor einer Wahl veröffentlicht wurden, sind stark von den tatsächlichen Wahlergebnissen abgewichen. Wie präzise sind die Zahlen des ARD-DeutschlandTrends denn wirklich?
Schönenborn: Es gibt ein grundlegendes Missverständnis. Das Ziel von Umfragen ist nicht die Prognose auf die Wahl. Nie. Sie bilden immer nur und ausschließlich die Stimmung zum Zeitpunkt der Befragung ab. Das tun sie präzise im Rahmen des statistisch Möglichen. Das ist wirklich mein Ehrgeiz und ich bin stolz, wenn mir mal eine Fragestellung gelingt, die neu ist und sehr gut die Stimmung beschreibt. Es wäre aber völlig aberwitzig, die Vorstellung zu haben, man könnte mit Hilfe von Umfragen das Wahlergebnis voraussagen. Zehn Tage vor der Wahl hat sich etwa ein Drittel der Wählerinnen und Wähler noch nicht entschieden.
Variieren die Umfrageergebnisse im Wahlkampf stärker als in der Mitte einer Legislaturperiode?
Schönenborn: Nein. Was man sagen kann, ist, dass wir in der laufenden Legislaturperiode Sprünge und Verschiebungen haben wie noch nie zuvor. Die politische Stimmung war noch nie derart veränderlich wie seit 2009. Die Grünen zum Beispiel stehen im Moment bei 14 Prozent, nach der Katastrophe in Fukushima 2011 standen sie sogar bei 24 Prozent.
Was beeinflusst die Umfragetrends am stärksten? Sind es Skandale, der Wahlkampf oder Umweltkatastrophen wie die Flut in Deutschland?
Schönenborn: Die Bindung, die Menschen an eine Partei empfinden, lässt immer stärker nach. Es gibt einfach mehr Menschen, die auf der Suche sind als früher. Ich glaube, dass eine Katastrophe oder ein Skandal kurzfristig für Ausschläge sorgen kann. Die Leute gucken aber gerade bei der Bundestagswahl mit großer Ernsthaftigkeit auf die Politik. Am Ende spielen die Spitzenkandidaten, das Image und die Entwicklung einer Partei eine große Rolle.
Haben die Umfragen Einfluss auf das Meinungsbild der Wähler?
Schönenborn: Derzeit eher eingeschränkt, aber kurz vor den Wahlen sieht das anders aus. Gerade deshalb veröffentlichen wir bislang in den zehn Tagen vor der Wahl keine „Sonntagsfrage“ mehr. Bei der Wahl in Niedersachsen zum Beispiel lag die FDP bis in den Januar hinein unter der Fünf-Prozent-Hürde. Als die ARD und das ZDF gleichlautend zehn Tage vor der Wahl die FDP in ihren Umfragen bei fünf Prozent hatten, war das ein Signal an die Wähler. Ihre Stimme war vielleicht doch nicht verloren. Aus internen Daten ging hervor, dass die FDP am Donnerstag vor der Wahl bei 7,6 Prozent gewesen wäre. Nehmen wir mal an, wir hätten das veröffentlicht. Welche Wirkung hätte das gehabt? Ich bin sehr entschieden der Ansicht, dass wir bei der Karenzzeit von zehn Tagen bleiben sollten.
Ersetzen Umfragetrends die politische Meinungsbildung mancher Wähler?
Schönenborn: Umfragen werden von vielen Wählern eher als Orientierung herangezogen. Parteien bieten nicht mehr unterschiedliche, geschlossene Weltbilder an. Für den sich ungebunden fühlenden Wähler ist es schwer, inhaltlich zu entscheiden. Es wird also versucht, taktisch vorzugehen. Denn am Ende geht es um Koalitionen und nicht um eine Partei. Bei solchen Entscheidungen sind Umfragen die Grundlage.
In Deutschland wird oft von einer Politikverdrossenheit beziehungsweise Parteienverdrossenheit gesprochen. Belegen dies auch die Umfrageergebnisse?
Schönenborn: Ich glaube, dass wir eher eine Parteienverdrossenheit haben. Viele Menschen, die nicht wählen gehen, sind durchaus politikinteressiert. Vor kurzem haben wir wieder gefragt: Glauben Sie, dass die Parteien ihre Wahlversprechen nach der Wahl wirklich umsetzen? Die Grünen haben dort noch relativ gut abgeschnitten. Ich meine, wer würde auch Steuererhöhungen versprechen, die er dann nicht einhält? Etwa zwei Drittel der Befragten vertrauen nicht auf die Wahlversprechen der anderen Parteien. Das ist auch ein Signal für Parteienverdrossenheit.
Glauben Sie, dass die Alternative für Deutschland — wie vor einiger Zeit die Piraten bei Landtagswahlen — eine höhere Chance haben, in den Bundestag gewählt zu werden, oder zumindest einen Achtungserfolg zu erringen?
Schönenborn: Eine höhere Chance auf jeden Fall. Die AfD ist aber keine Partei, der man inhaltlich vertraut. Die Botschaft, „Wir wollen aus dem Euro raus“, ist keine so populäre wie man denkt. Die Mehrzahl der Menschen hofft, dass der Euro erhalten bleibt. Sie findet ihn — von Konstruktionsschwächen abgesehen — gut. Wenn die AfD gewählt wird, dann als Protestsignal. Bei einer Bundestagswahl ist die Denkzettelbereitschaft allerdings nicht so hoch, dass wahrscheinlich wäre, dass eine dieser Parteien auf über fünf Prozent kommt.
Was würden Sie also den Wahlkampfmanagern der Volksparteien empfehlen?
Schönenborn: Im Moment gibt es eine gewaltige Sorge um den Erhalt des persönlichen Wohlstandes. Diese Sorge ist mit dem Thema Euro verbunden. Deswegen halte ich es für einen Fehler, wenn Parteien das Thema Euro im Wahlkampf nicht offensiv ansprechen. Ich glaube, dass zum Beispiel die SPD besser beraten wäre, gerade mit dem Kandidaten den sie hat, dies aktiv zu einem Thema zu machen. Nicht nur dann, wenn man notgedrungen danach gefragt wird.
Dann dürfen wir auf die Wahl im September gespannt sein. Vielen Dank für Ihre Zeit und Ihre Informationen zum ARD-DeutschlandTrend.
Schönenborn: Herzlichen Dank.