Region : Interview: Die Gefahren für Frieden und Humanität sind nicht vorbei
Region Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist über die Jahrzehnte zu einem politisch-kulturellen Identitätsmerkmal der Bundesrepublik Deutschland geworden. Der Münchener Historiker Magnus Brechtken warnt aber davor, sich auf den Ergebnissen des intensiven und selbstkritischen Umgangs mit der NS-Vergangenheit auszuruhen.
Denn er stellt fest, dass sich das Bewusstsein für die Gefahren des Nationalismus „in den letzten Jahrzehnten fortschreitend verflüchtigt“ habe. Mit Brechtken sprach unser Redakteur Peter Pappert.
Kann der Besucher eines ehemaligen Konzentrationslagers einen unverfälschten, authentischen Eindruck von dem damaligen Geschehen bekommen?
Brechtken: Das kommt darauf an, wie weit er sich zuvor mit dem Thema und dem, was ihn dort erwartet, beschäftigt hat. Wenn jemand unbedarft und ohne Vorwissen eine solche Gedenkstätte besucht, hängt es davon ab, wie ihm dort das Geschehen von damals vermittelt wird, ob er allein durch eine Ausstellung geht oder geführt wird.
In den KZ-Gedenkstätten werde sichtbar, „wohin die Diskriminierung und Verfolgung einer Minderheit im Extremfall führen“, hat der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, gesagt.
Brechtken: Das ist absolut richtig. Die Konzentrations- und Vernichtungslager waren Ausdruck einer Ideologie, die Menschen nach verschiedener Wertigkeit sortiert hat. Das führt zu Diskriminierung und im Extremfall zu Mord. Das kennt man von vielen Ideologien, Religionen oder ethnischen Konflikten. Wenn sich eine Gruppe selbst als überlegen konstruiert und meint, sie müsse eine andere beherrschen oder beseitigen, führt das ins Unheil. Da hat Herr Schuster Recht.
Hin und wieder taucht die Forderung auf, Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern für Schüler höherer Jahrgangsstufen zur Pflicht zu machen. In der DDR gab es diese Pflicht. Was halten Sie davon? Oder sind Freiwilligkeit und die eigene Motivation die bessere Voraussetzung?
Brechtken: Letzteres stimmt. Es ist unbedingt notwendig, dass es eine didaktische Begleitung gibt, aus der heraus eine eigene Motivation für solche Besuche entsteht. Es ist grundsätzlich sinnvoll, sich in der Schule mit dieser Geschichte — und schwerpunktmäßig mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte — auseinanderzusetzen; das gilt für den Nationalsozialismus und darüber hinaus für alle Fragen des Nationalismus. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden, führt der Nationalismus seitdem immer wieder zu Einteilung und Ausgrenzung: Die gehören dazu, jene gehören nicht dazu. Es ist in der deutschen und den europäischen Gesellschaften dringend geboten, sich dessen — und der Folgen — wieder bewusst zu werden.
Sind wir uns dessen denn nicht bewusst? Brechtken: Dieses Bewusstsein hat sich in den letzten Jahrzehnten fortschreitend verflüchtigt. Die Generation unserer Väter und Großväter hatte täglich vor Augen, wohin extremer Nationalismus und dogmatische Ideologien führen. Diese Art aktueller Erinnerung ist verloren gegangen; das gilt für politischen Nationalismus europäischer Prägung und für religiösen Nationalismus, wie wir ihn aus den arabischen Ländern kennen.
Warum ist das Bewusstsein dafür verloren gegangen?
Brechtken: Die Generationen vor uns haben den extremen Nationalismus selbst erlebt. Er war präsent, die Folgen waren präsent; man hat im Alltag darüber gesprochen. Und wir wissen davon aus Gesprächen mit denen, die das erlebt haben. Unseren Kindern fehlt diese Erfahrung. Sie kennen nur eine friedliche Welt, Wohlstand, europäische Einheit, Freizügigkeit. Fast 73 Jahre sind seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen. Eine solche Friedenszeit, wie wir sie in Europa bis heute erleben, hat es in der Weltgeschichte nie gegeben. Der Zustand des Friedens, in dem wir leben, ist eine Lehre aus dem Vorherigen. Und das Bewusstsein dafür geht verloren.
Müssen insbesondere muslimische Migranten, die nach Deutschland kommen, das Holocaust-Kapitel der deutschen Geschichte kennen und auch in früheren Konzentrationslagern kennenlernen?
Brechtken: Wer in der deutschen Gesellschaft integriert mitleben möchte, muss selbstverständlich die Geschichte dieser Gesellschaft kennen. Zur Geschichte der heutigen deutschen Gesellschaft gehört in hohem Maße die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Denn aus dessen Analyse lernt man, wohin Ideologie, dogmatische Lehren, Autoritätsorientierung, Obrigkeitsstaat, Demokratie-Feindlichkeit und Anti-Parlamentarismus führen.
Das gilt in verwandtem Maße auch für das Herrschaftssystem in der DDR, den SED-Staat und die kommunistische Ideologie; der Nationalsozialismus war jedoch weit extremer, weil er bewusst in den Krieg führte und die Welt nach Rassenkriterien gestalten wollte. Die Auseinandersetzung mit dieser brutalen Erfahrung hat der Bundesrepublik in mehr als 70 Jahren sehr geholfen, eine moderne demokratische Gesellschaft zu werden und zu sein. Die permanente selbstkritische Auseinandersetzung ist kein Selbstzweck, sondern dient der mündigen Reflexion dessen, was man tut.
Einsichten aus der Geschichte gewinnen und Konsequenzen ziehen gegen Nationalismus, Rassismus, Ideologien — darum geht es?
Brechtken: Ja — auch gegen religiösen Dogmatismus. Dem 30-jährigen Krieg 1618 bis 1648 ist ein Drittel der damaligen Bevölkerung zum Opfer gefallen. Da standen sich zwei Parteien gegenüber mit dem Anspruch, den anderen vernichten zu müssen, weil man selbst Gott auf seiner Seite sah. Das hat man schließlich aufgegeben, weil man feststellte: Wenn wir so weitermachen, bleibt am Ende niemand übrig.
Sie vertreten also einen pädagogischen Ansatz.
Brechtken: Ja, Geschichtswissen ist eine Form des Mündigmachens für die Zivilgesellschaft. Dieses Mündigmachen ist notwendig, damit das Individuum in der Gesellschaft seine Freiheit leben und verteidigen kann und spürt, wenn sie bedroht ist.
Dann geht es letztlich darum, dass man sensibel bleibt oder wird, Entrechtung, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen zu erkennen und bestenfalls dagegen einzuschreiten?
Brechtken: Genau — und zwar auch im eigenen Interesse. Seinen Beitrag zu leisten für eine Gesellschaft, in der die Grundrechte lebendig bleiben.
Sind es also moralische, ethische Fragen: Wie nahe ist mir der Nächste? Was tue ich gegen Gewalt? Bin ich mutig genug, denen zu helfen, die schikaniert werden?
Brechtken: Das ist immer eine moralische Frage. Wovon leitet sie sich aber ab? Mein Kriterium ist Kants Kategorischer Imperativ. Vereinfacht: Handele ich selbst nach den Maßstäben, nach denen ich behandelt werden möchte?
Noch einmal zu den Besuchen in den ehemaligen Konzentrationslagern: Wie wichtig ist bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust der Aspekt, den Opfern bleibende Anerkennung zu gewährleisten?
Brechtken: Das ist sehr wichtig. Das Gedenken in seinen verschiedenen Formen ist der Gegenentwurf zu dem, was die Nationalsozialisten wollten: die Menschen von der Erde verschwinden zu lassen einschließlich der Erinnerung an sie. Würden die Opfer vergessen, bekämen die Nationalsozialisten noch nachträglich Recht.
Bekommen die Besuche von KZ-Gedenkstätten eine größere Bedeutung, weil es kaum noch Zeitzeugen gibt und irgendwann gar keine mehr leben werden?
Brechtken: Es ist sehr hilfreich, wenn Zeitzeugen in Schulen über ihre Erlebnisse im Nationalsozialismus berichten. Aber das allein reicht nicht. Schüler müssen sich rational mit Texten und Themen auseinandersetzen, sie analysieren, sich in Mehrheits- und Minderheitspositionen versetzen, das zugrundeliegende Denken entschlüsseln und ihre eigenen Werte entwickeln.