1. Region

Früherer BGH-Richter zum Fall Marvin H.: Eine Katastrophe und ihre Bewältigung

Früherer BGH-Richter zum Fall Marvin H. : Eine Katastrophe und ihre Bewältigung

Das Amtsgericht Aachen hat Marvin H. in dieser Woche wegen fahrlässiger Tötung von fünf Menschen im Straßenverkehr zu einer Haftstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. In der Öffentlichkeit stößt das Urteil auf Kritik. Der Versuch einer Einordnung.

Wenn man sich als Außenstehender zu einem Strafurteil in einem Fall äußern will, der hohe Emotionen einer breiten Öffentlichkeit verursacht hat, kann man viele Fehler machen. Einer davon wäre der Versuch, mit kompromisshaften Formulierungen vorzutäuschen, die hart aufeinanderprallenden Interessen des Beschuldigten, der Opfer und Hinterbliebenen, der übrigen Verfahrensbeteiligten, der Öffentlichkeit sowie des Allgemeininteresses könnten bruchlos „versöhnt“ oder mit Hilfe formelhafter Begriffe unter einen Hut gebracht werden. Ebenso falsch wäre es, sich einseitig als Vertreter einer dieser Interessen und Betroffenheiten aufzuspielen. In Fällen wie dem des Jugendschöffengerichts Aachen, das am 12. Februar den zur Tatzeit heranwachsenden Marvin H. wegen fahrlässiger Tötung in fünf tateinheitlichen Fällen, zusammentreffend mit unerlaubtem Kraftfahrzeugrennen, zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilte, mangelt es nicht an Äußerungen dezidierter Überzeugung davon, was angeblich allein richtig, angemessen und gerecht wäre. Das ist verständlich. Dass es der Sache gerecht wird, ist damit nicht gesagt.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Angeklagte mit seinem Pkw zur Nachtzeit eine langgezogene Rechtskurve, in der eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 70 km/h angeordnet war, mit 120 km/h. Um von einer stationären Radar-Kontrollstelle nicht erfasst zu werden, lenkte er sein Fahrzeug auf die Gegenfahrbahn. Dort kollidierte er aufgrund Unachtsamkeit frontal mit einem entgegenkommenden PKW. Dessen drei Insassen, eine 44-jährige Frau und ihre beiden jugendlichen Kinder, wurden bei dem Unfall getötet, ebenso zwei heranwachsende Insassen des vom Angeklagten geführten Pkw. Seine Beifahrerin wurde mit bleibenden Folgen schwer verletzt; er selbst überlebte mit Knochenbrüchen und ohne lebensgefährliche Verletzungen.

Wer ist schuld?

Das ist ein entsetzliches Geschehen, das fünf Menschenleben vernichtet und das Leben vieler weiterer Menschen für immer verändert und Unglück über sie gebracht hat. Auch die Öffentlichkeit ist von einer solchen Tat in hohem Maß aufgewühlt. Denn ein so katastrophales Ereignis, das in die Normalität des Alltags hineinschlägt, muss auch für sie „verarbeitet“, erklärt, bewältigt werden. Die (scheinbar) einfachsten und übersichtlichsten Fragen sind dann stets: Wer ist schuld? Welche Folgen hat der Schuldige zu tragen? Wie kann seine Schuld erklärt, wie kann sie ausgeglichen werden?

Fahrlässigkeitstaten mit besonders schweren Folgen sind oft besonders schwer zu ertragen. Bei einer vorsätzlichen Tötung kann man das Ergebnis (Tod von Menschen) einem „bösen Willen“ und damit einer klaren, in der Person des Täters liegenden und mit dem Erfolg sozusagen kongruenten Ursache zuschreiben. Bei Fahrlässigkeits­taten gelingt das viel schwerer. Denn das sogenannte „Handlungsunrecht“ und die darauf bezogene persönliche Schuld sind hier oft gering: Der Täter hat sich oft ähnlich verhalten wie viele andere auch – zum Beispiel indem er zu schnell fuhr, nicht genügend aufpasste, etwas übersah oder vergaß und so weiter. Zum strafrechtlichen „Erfolg“ seines Verhaltens kommt es durch einen Ursachenverlauf, der von niemandem gewollt oder vorhergesehen war, aber vorhersehbar und vermeidbar gewesen wäre. Das ist das Wesen der Fahrlässigkeit.

Das Bedürfnis nach Rache

Als erster Impuls drängt sich bei einem Geschehen, das so offenkundig sinnlos und katastrophal in seinen Auswirkungen ist, verursacht durch eine kaum erträgliche Mischung aus Selbstüberschätzung, Dummheit, Gefahrverdrängung und Verantwortungslosigkeit, das Bedürfnis nach Rache auf. Das gilt nicht nur für die persönlich Betroffenen und Geschädigten, sondern auch für Angehörige der Öffentlichkeit, die das Geschehen in ihr eigenes Alltagsleben integrieren müssen. Dem Recht und der justiziellen „Verarbeitung“ kommt eine wichtige Rolle zu; denn es liegt auf der Hand, dass Racheaktionen, Selbsthilfe, Lynchjustiz das Gegenteil dessen bewirken würden, was erforderlich ist.

Anders als im Zivilrecht soll im Strafrecht unmittelbar die Schuld des Täters dargestellt, festgestellt, skandalisiert und vergolten werden. Je größere emotionale Erwartungen an dieses Verfahren bestehen, desto eher können sie enttäuscht werden. Das liegt nicht daran, dass „die Justiz“ nicht genügend Mitgefühl und guten Willen aufbringen will – obwohl diese Fehler, wie überall, auch bei der Justiz vorkommen. Es liegt vor allem daran, dass Strafjustiz nicht quasi stellvertretend Rache ausüben soll und darf.

Der Jurist Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D..
Der Jurist Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D.. Foto: imago/Horst Galuschka/imago stock&people

Im Strafprozess wird der Staat tätig, nicht Richterin X oder Richter Y als private, moralisch empörte Personen. Der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols und Sachwalter von Allgemeininteressen darf nicht auftreten und agieren wie ein Betroffener oder eine Prozesspartei. Die Aufgabe des Strafgerichts ist es, Interessen auszugleichen, nicht, sich einseitig auf eine Seite zu schlagen. Um sich das klarzumachen, muss man sich nur vorstellen, was man für sich selbst oder einen nahen Angehörigen von der Strafjustiz erwarten würde, wenn man wegen eines folgenschweren Versagens beschuldigt wäre.

Eine auf Sensationen fixierte und auf Emotionalisierung zielende Presse-Berichterstattung ist in Fällen wie dem hier vorliegenden kaum vermeidbar. Nützlich ist sie nicht. Sie heizt durch Vereinfachungen und Vor-Unterstellungen eine Stimmung an, die der Sache nicht gerecht wird und zu Enttäuschungen führt, mit der Sache selbst oft fast nichts mehr zu tun hat und sie nur als Vorwand benutzt. Dahinter steht meist weniger böser Wille als ökonomisches Interesse, überdies die Hoffnung, durch plakative Vereinfachung Zustimmung zu erlangen.

Man konnte solche Mechanismen auch im Fall Marvin H. beob­achten: Von der Erfindung seltsamer Titel des Beschuldigten („Der Totraser“) über die sinnfrei-selektive Mitteilung persönlicher Daten zu Kindheit, Schulbesuch oder Leumund bis hin zur Formulierung von Rechtsfragen, die bestimmte Antworten oder Sichtweisen schon unterstellten: „Warum keine Anklage wegen Mord?“ oder „Warum eine so milde Strafe?“ Sinnvolle Antworten auf solche Fragen dauern länger als eine Schlagzeile, und sie lassen sich nicht auf unumstößliche, eindimensionale Behauptungen reduzieren. Nicht wenige, die die Fragen hoch emotionalisiert stellen, sind an solchen Antworten vielleicht gar nicht ernsthaft interessiert.

„Mord“ ist ein Straftatbestand. Damit er erfüllt ist, müssen bestimmte gesetzliche Merkmale gegeben sein. „Mord“ kann nicht „fahrlässig“ begangen werden, also durch bloß unachtsames Verhalten, sondern nur vorsätzlich: Der Täter muss den Tod anderer Menschen wollen oder zumindest billigen. Das ist nicht schon dann gegeben, wenn ein Tod besonders schlimm oder sinnlos erscheint, ein Versagen besonders grob ist oder mehrere Menschen getötet werden: Auch wenn ein Stellwerksmitarbeiter der Bahn eine Strecke freigibt und beim Zusammenstoß zweier Züge 100 Menschen sterben, wird die Tat dadurch nicht zum „Mord“. Und auch die Autofahrerin, die in einer 30er-Zone 50 fährt und durch Unachtsamkeit ein Rad fahrendes Kind tötet, ist keine „Mörderin“ im Rechtssinn.

Nach Maßgabe von Empörungen

Wer zur Tatzeit zwischen 18 und 20 Jahre alt ist, heißt „Heranwachsender“. Er wird nach Jugendstrafrecht verurteilt, „wenn er in seiner Entwicklung einem Jugendlichen (14 bis 17) gleichsteht“. Ob das der Fall ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Man kann sie nicht aus der Ferne, nach Maßgabe von Empörungen oder gesundem Menschenverstand beurteilen. Ob Staatsanwaltschaft und Amtsgericht sie im Aachener Fall richtig entschieden haben, kann man daher von außen nicht wissen. Die Frage wurde sachverständig geprüft; es ist nicht erkennbar, dass das Lesen von „Bild“ oder „Express“ bessere Sachkunde vermitteln könnte.

Jugendstrafrecht ist im Grundsatz ein „Erziehungs“-Strafrecht. Deshalb gibt es bei der Jugend-Freiheitsstrafe auch keine „Strafrahmen“ wie im Erwachsenenrecht; vielmehr ist zwischen sechs Monaten und fünf Jahren (bei schweren Verbrechen, zu denen fahrlässige Tötung nicht zählt: zehn Jahren) die Strafe so zu bemessen, wie es eine „erzieherische Einwirkung“ erfordert. Dass in der Praxis der Jugendstrafe vieles im Argen liegt, ist bekannt; dass es dadurch besser würde, dass man die Höhe der Strafen verdoppelt oder verdreifacht, ist aber fernliegend.

Es gibt auch hier keine einfachen, schnellen und billigen Lösungen für vielschichtige Probleme. Das festzustellen, bedeutet keine Kapitulation vor einem „Versagen des Rechtsstaats“, sondern ist die Aufforderung, die schwierigeren, mühsameren und teureren Lösungen zu versuchen. Das sollten uns Sicherheit, Rechtsfriede und Leib und Leben potenzieller Opfer wert sein.

Ein Teil öffentlicher Empörung hat sich in Aachen offenbar da­ran entzündet, dass Staatsanwaltschaft und Gericht nicht genügend offen über die Gründe von Verfahrensentscheidungen (Anklage „nur“ beim Jugendschöffengericht; Nichtzulassung von Öffentlichkeit in der Hauptverhandlung) Auskunft gaben. Das ist einerseits verständlich. Andererseits sind das im System angelegte, vertretbare Entscheidungen: Es gibt kein unbegrenztes Recht der allgemeinen Öffentlichkeit, über Einzelheiten von Jugendstrafverfahren mittels Presseberichten informiert zu werden. Auch hier hilft beim Verständnis die Vorstellung, das eigene Kind säße auf der Anklagebank.

Die am wenigsten nützlichen Mittel

So folgt am Ende dieser kurzen Betrachtung weder ein Lob noch eine Verdammung des Urteils des Jugendschöffengerichts in Aachen. Das ist von außen nicht möglich und wäre unseriös; es hilft auch den Betroffenen nicht. Das schreckliche Geschehen kann nicht rückgängig gemacht werden, ganz gleich, wie hart der Täter bestraft wird. Taten von Jugendlichen und Heranwachsenden sind heute nicht häufiger, nicht schwerer und nicht unverständlicher als vor 50 Jahren; sie werden aber, aus vielerlei Gründen, anders wahrgenommen und bewertet. Um die kindische, katastrophale Verantwortungslosigkeit unreifer junger Männer zu steuern, sind Rachemaßnahmen oder die bloße Drohung mit höheren Strafen die am wenigsten nützlichen Mittel.

Prof. Dr. Thomas Fischer, Jahrgang 1953, ist Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D. Er war vier Jahre lang Vorsitzender des 2. Strafsenats, der über fast alle Revisionen gegen Urteile entschieden hat, die vorher am Landgericht Aachen gefällt wurden. Er ist Verfasser des bekanntesten Kommentars zum Strafgesetzbuch, Schriftsteller und Kolumnist unter anderem bei „Spiegel Online“. Er lebt in Baden-Baden.

Marvin H. zu Haftstrafe verurteilt