Der Fall Marvin H. : Ein Urteil, das viele nicht verstehen
Aachen/Stolberg Der Verursacher eines Unfalls bei Stolberg, bei dem 2018 fünf Menschen starben, muss ins Gefängnis und erhält eine Führerscheinsperre für drei Jahre. Vielen reicht das nicht. Müsste die Justiz ihr Vorgehen erklären? Das Urteil fiel hinter verschlossenen Türen.
Als nach der Urteilsverkündung die Tür zum Gerichtsaal aufging, verließen die Anwälte der Hinterbliebenen zuerst den Saal, sie schwiegen, schauten zu Boden und waren zu keiner Stellungnahme bereit. Es folgte Oberstaatsanwalt Wilhelm Muckel, der wortlos fast im Laufschritt an den Journalisten vorbei eilte. Und dann, einige Minuten später, als die Kamerateams in einer anderen Ecke des Foyers im Aachener Justizzentrums standen, führte Rechtsanwalt Osama Momen den gerade verurteilten Marvin H. aus dem Saal. leicht nach vorn gebeugt, Aktenordner vor dem Gesicht, den Anorak bis oben zu- und die Kapuze eng um das Gesicht gezogen. So verließ Marvin H. am Mittwochvormittag das Gebäude.
Marvin H., inzwischen 22 Jahre alt, hatte am 22. Dezember 2018 mitten in der Nacht einen Unfall verursacht, bei dem fünf Menschen starben. Auf der Würselener Straße in Stolberg fuhr er viel zu schnell, 120 statt erlaubter 70 Stundenkilometer, wich einer Radarmessanlage aus und raste auf der Gegenfahrbahn frontal in einen Opel, in dem eine 44-jährige Mutter und ihre beiden Kinder starben. Auch in H.s Auto starben zwei der vier Insassen, Marvin H. trug nur leichte Verletzungen davon. Er wurde am Mittwoch vom Amtsgericht Aachen zu einer Jugendstrafe von dreieinhalb Jahren Haft verurteilt.
Hemmungsloser Vergeltungsdrang
Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt. Nicht nur in den Sozialen Medien, aber natürlich besonders dort, war die Empörung groß. Wie immer bei Straftaten, bei denen vollkommen unschuldige Zufallsopfer aufgrund von Verfehlungen Einzelner zu Schaden kommen oder im schlimmsten Fall sterben, werden schnell, laut und erschreckend oft lebenslange Gefängnisstrafen gefordert, Kerkerhaft oder gleich die Todesstrafe. Der Vergeltungsdrang bricht sich in der Anonymität des Internets hemmungslos Bahn. In einer Petition forderte auf der Plattform change.org jemand „lebenslange Haft für Marvin H. ohne Chance auf Revision“. Eine Forderung, die jede Form von Rechtsstaatlichkeit ignoriert. Bis Mittwochnachmittag hatten 285 Menschen diese Petition unterzeichnet.
Gisbert Fuchs, Direktor des Aachener Amtsgerichts, versuchte am Mittwoch, gut zwei Dutzend Medienvertretern nach dem Ende des unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführten Prozesses zu erklären, dass das Ziel des Jugendstrafrechts nicht in erster Linie die Bestrafung von Jugendlichen oder, wie im Fall von Marvin H., Heranwachsenden ist, sondern deren Erziehung. Das Jugendstrafrecht gibt den Verurteilten noch mehr Chancen zur Resozialisierung als das Erwachsenenstrafrecht. Fuchs bat darum, das Urteil vor diesem Hintergrund zu bewerten.
Ein oft gehörtes Argument ist, es sei ungerecht, dass jemand wie Marvin H. zwar erwachsen genug ist, ein Auto fahren zu dürfen, aber nicht erwachsen genug, um für das Verursachen eines derart schweren Unfalls wie den am 22. Dezember 2018 wie ein Erwachsener zur Verantwortung gezogen zu werden. Amtsgerichtsdirektor Fuchs sagte, dass das Argument „natürlich nachvollziehbar“ sei. „Die Möglichkeiten der Gerichte erschöpfen sich aber darin, geltendes Recht anzuwenden. Den rechtlichen Rahmen legt aber allein der Gesetzgeber fest“, im Fall des Jugendstrafrechts also der Bundestag.
Es ist bisweilen ein Dilemma der Justiz, das Rechtsempfinden der Bevölkerung und Rechtsprechung in Einklang zu bringen. Oft gelingt es, manchmal, wie im Fall Marvin H., gelingt es nicht oder nur schlecht. Fünf Menschen sind tot, der Täter lebt und wird möglicherweise nach 15 oder 20 Monaten Jugendhaft wieder auf freiem Fuß sein, wenn er sich im Gefängnis gut führt. Es wäre deshalb womöglich die Aufgabe der Justiz gewesen, nicht erst in Person von Amtsgerichtsdirektor Fuchs nach dem Urteil etwas zur Rechtslage zu sagen und um Verständnis für das Urteil zu werben, sondern schon weit vorher.
Kritik hinter vorgehaltener Hand
Die Entscheidung der Aachener Staatsanwaltschaft, den Unfall am Amtsgericht zu verhandeln und nicht am Landgericht, vor dem das Strafmaß möglicherweise höher ausgefallen wäre, ist juristisch nicht zu beanstanden. Sie ist für juristische Laien, also für den überwiegenden Teil der Bevölkerung, aber erklärungsbedürftig. Dass die Staatsanwaltschaft nicht nur nach, sondern auch schon lange vor Prozessbeginn jede Stellungnahme zu der Entscheidung abgelehnt hat, stößt in Teilen der Aachener Justiz und auch an höherer Stelle auf Unverständnis – wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand.
Weder die Behördenleitung der Aachener Staatsanwaltschaft, noch die übergeordnete Generalstaatsanwaltschaft Köln, noch das Justizministerium in Düsseldorf wollten offiziell etwas zu dem Fall sagen. Das hilft Bürgern, deren Rechtsempfinden nach einer erheblich höheren Strafe verlangt, nicht zu verstehen, warum Marvin H. nicht noch härter bestraft wurde. Und warum Oberstaatsanwalt Wilhelm Muckel in seinem Plädoyer vergangene Woche eine Strafe von lediglich zweieinhalb Jahren Haft beantragt und für angemessen gehalten hatte.
Im Mai 2019 hatte sich Marvin H. schon einmal vor dem Amtsgericht verantworten müssten, damals hieß die Richterin wie in dem am Mittwoch zu Ende gegangenen Prozess Katrin Thierau-Haase. Damals war Marvin H. in Folge des Unfalls vom 22. Dezember 2018 noch an Krücken ins Gericht gegangen, es ging um Körperverletzung, Autos spielten auch in diesem Prozess schon eine Rolle. Das Verfahren gegen Marvin H. und zwei ältere Freunde wurde schließlich gegen Geld-Auflagen eingestellt, 250 Euro.
„Psychisch erheblich belastet“
Eine Psychologin der Jugendgerichtshilfe hatte Marvin H. im Mai 2019 eine gewisse „Reifeverzögerung“ attestiert und sich dafür stark gemacht, dass das Jugendstrafrecht angewendet wird. Die Richterin war der Empfehlung damals gefolgt, und offenbar folgte sie einer ähnlichen Empfehlung in dem Unfall-Prozess erneut. Zum damaligen Zeitpunkt absolvierte Marvin H. in der elterlichen Kfz-Werkstatt eine Ausbildung zum Mechatroniker, die mündliche Abschlussprüfung hatte er bereits absolviert. Zur praktischen Prüfung war er 2019 nicht angetreten, weil er krankgeschrieben war.
Was Marvin H. seither gemacht hat, wie seine Zukunftsperspektive aussieht, ob er sich vor Gericht einsichtig zeigte, emotional war, verschlossen oder desinteressiert, erfuhr die Öffentlichkeit nicht. Sein Verteidiger, Osama Momen aus Aachen, erklärte am Mittwoch, Marvin H. habe sich während des Prozesses nicht geäußert. Zum Unfall habe er nichts sagen können, da er unter einer retrograden Amnesie leide, also unter einem Gedächtnisverlust, der die Zeit kurz vor und nach dem Unfall ebenso wie das Unfallgeschehen selbst umfasst. Sein Mandant sei reumütig und habe in einer Stellungnahme, die Momen während des Prozesses verlesen hatte, die Hinterbliebenen seiner Opfer um Entschuldigung gebeten. Anwalt Momen sagte, Marvin H. sei seit dem Unfall „psychisch erheblich belastet“.
Die Rechtsanwälte, die die Hinterbliebenen des Unfalls in dem Prozess vertraten, hatten sich darauf geeinigt, weder vor noch während des Prozess an die Öffentlichkeit zu gehen oder Medienanfragen zu beantworten. Sie blieben auch am Mittwoch dabei, als der Prozess zu Ende war. Bedenkt man, was der plötzliche Verlust eines noch jugendlichen Kindes oder gar der gesamten Familie für die jeweiligen Hinterbliebenen bedeutet, ist diese Entscheidung verständlich. Eine der Anwältinnen sagte, die Anfragen der Boulevardzeitungen seien „impertinent“ gewesen.
Und so sorgten die Anwälte dafür, dass es weder beim Prozessauftakt Ende Januar noch am Mittwoch nach der Urteilsverkündung Kontakt zwischen Hinterbliebenen und Medienvertretern gab. Amtsgerichtsdirektor Fuchs sagte, als die meisten Medienvertreter schon wieder gegangen waren, dass es bei diesem Prozess „ausschließlich Verlierer gegeben“ habe.
Eine Floskel zwar, aber selbst Floskeln können manches manchmal präzise auf den Punkt bringen.