1. Region

Mordprozess „Sandkuhle“ gestartet: Ein Anruf bei Aktenzeichen XY, der alles verändert

Mordprozess „Sandkuhle“ gestartet : Ein Anruf bei Aktenzeichen XY, der alles verändert

Mehr als 24 Jahre ist es her, dass Wilfried Kalitz in Würselen brutal ermordet wurde. Seit Dienstag steht ein 51-Jähriger in Aachen vor Gericht. Der Prozess dürfte spannend werden.

Es ist der 28. August 2019. In Aachen sitzt ein Mann vor dem Fernseher und zappt sich durchs Programm. Auch beim ZDF landet er, wo gerade Aktenzeichen XY läuft. Die Sendung schaut er sonst nie. Doch just in diesem Augenblick ist da die Rede von eine furchtbar malträtierten nackten Leiche, die im Dezember 1996 in einer stillgelegten Kiesgrube im Kreis Kleve gefunden wurde. Die Identität des Opfers konnte nie geklärt werden, erst recht nicht die Täterfrage. Der Mann greift zum Telefonhörer. Im Aufnahmestudio der Sendung nimmt eine Mitarbeiterin ab. Der Mann sagt: „Es geht um den Toten in der Kiesgrube.“

Es ist ein Anruf, der einem ungelösten Fall, einem sogenannten „Cold Case“, eine entscheidende Wendung gibt. In mehrfacher Hinsicht. „Ich kann Ihnen sagen, wie der heißt und wo er wohnt“, sagt die Stimme am Telefon. Kalitz habe er geheißen, wohnhaft in der Frohnhofstraße in Würselen. Er habe da Wohnmobile restauriert.

Der Anrufer sagt auch: „Ich weiß, was damals passiert ist.“ Und: „Glauben Sie mir, ich bin zweimillionenprozentig sicher. Ich weiß auch, wer es war.“ Das belaste ihn seit 23 Jahren. Sein Bruder sei darin verwickelt. Und ein weiterer Mann, der noch auf freiem Fuß sei.

Dieser Mann, Achim K., sitzt nun nach all der Zeit im großen Saal des Aachener Landgerichts vor der Schwurgerichtskammer um ihren Vorsitzenden Richter Roland Klösgen. Denn nach dem Anruf wurde in dem Fall nochmal ermittelt. Zunächst konnte die Mordkommission der Krefelder Kripo um ihren langjährigen und jetzt pensionierten Chef Gerhard Hoppmann den Toten tatsächlich anhand von DNA-Abgleichen mit Angehörigen als Wilfried Kalitz identifizieren. Und sprach natürlich auch mit dem XY-Anrufer.

Von ihm bekamen die Ermittler zu hören, dass einer der damaligen Täter sein Bruder Peter S. gewesen sei. Dieser starb wenige Monate nach der Tat, als er in der Türkei alkoholisiert einen Motorradunfall hatte. Zunächst habe aber Achim K. ihm erzählt, was Ende November 1996 in jenem Haus in Linden-Neusen, wo sich auch die Werkstatt von Kalitz befand, geschehen sei. Es sei um die Übernahme des Hauses und eine Summe von 5000 D-Mark gegangen. Peter S. – er saß zuvor bereits wegen eines Raubüberfalls auf ein wohlhabendes Ehepaar im Gefängnis – habe dann mit einem Hammer auf das Opfer eingeschlagen.

Geschlagen und erdrosselt

Nach dem Leichenfund wurden etliche Schläge auf den Kopf, die Beine, den Rücken festgestellt. Tot sei Kalitz aber da noch nicht gewesen, weswegen K. ihn dann mit einem Seil erdrosselt habe. Die Leiche habe man zunächst in einer Grube in dem Haus „zwischengelagert“, sie dann später in einen Teppich gerollt und zu der entlegenen Kiesgrube gefahren. So schildert  Hoppmann die Zeugenaussage des Anrufers, der jedoch noch mehr erzählt habe. So habe er schließlich auch seinen Bruder mit dieser Version konfrontiert. Zunächst habe dieser nichts sagen wollen, dann aber deckungsgleich die Tat eingeräumt.

Vor allem auf dieser Zeugenaussage fußt die Anklage, die Staatsanwalt Boris Petersdorf am ersten Prozesstag vorträgt. Der gelernte Fernmeldetechniker Achim K., der bis zu seiner Festnahme am 29. September 2020 in Übach-Palenberg wohnte, lässt seine Verteidiger vortragen, dass er sich vorerst weder zu seiner Personen noch zu den Vorwürfen äußern wird. Aus gutem Grund.

Zwar sagt der Erste Kriminalhauptkommissar a. D. Hoppmann, dass er die Zeugenaussage „plausibel und glaubwürdig“ findet. Aber es ist eben nur die Wiedergabe einer Geschichte vom Hörensagen. Es ist ein Indiz. Beweise gibt es nicht. An der Leiche wurden damals keine DNA-Spuren gefunden. Auch die Suche nach handfesten Belegen nach Wiederaufnahme der Ermittlungen brachte nach fast einem Vierteljahrhundert nichts zutage.

Was haben die Ermittler – sie glaubten jahrzehntelang fälschlicherweise, dass die Spur des Opfers und des Täters nach Polen führen würde – sonst noch? Auch die Frau des Anrufers wird als Zeugin aussagen. Aber sie hat die Geschichte wohl nicht von einem Beteiligten, sondern von ihrem Mann erzählt bekommen. Ein Freund des Angeklagten aus Bochum soll sie auch kennen, habe aber laut Hoppmann nicht aussagen wollen. Und weiteren Personen gegenüber soll Peter S. entsprechende, jedoch vagere Andeutungen gemacht haben.

Hoppmann bekundet, sich immer gefragt zu haben, wie man auf diese für Ortsunkundige kaum zu findende Kiesgrube komme. Was zu einem weiteren Indiz führt. Peter S. lebte als Kind unweit davon entfernt und spielte dort. Ob das zusammengenommen für eine Verurteilung wegen Mordes reichen wird, ist im weiteren Prozessverlauf die spannende Frage.

Die Familie von Wilfried Kalitz indes tritt an diesem Tag ebenfalls in den Zeugenstand: seine Ex-Frau, die Tochter, der Sohn. Seine Kinder habe er damals nach der Trennung von seiner Frau alle zwei Wochen zuverlässig zu sich geholt, berichten sie. Urplötzlich kam er nicht mehr. Seine Ex-Frau versuchte, bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufzugeben, was jedoch mangels ausreichenden Grundes – etwa Suizidgefahr, die Gefährdung anderer oder eine Krankheit – abgelehnt worden sei. Kalitz hatte Geldprobleme. Die Familie glaubte schließlich, er habe sich ins Ausland abgesetzt.

Am Mittwoch wird der Hauptbelastungszeuge in den Zeugenstand treten. Der Mann, der im August 2019 bei Aktenzeichen XY anrief, den „Cold Case“ auftaute und den Fall erst richtig ins Rollen brachte.