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Die rätselhafte Fahrt des dunklen VW Golf: Drei Annahmen, was passiert sein könnte

Die rätselhafte Fahrt des dunklen VW Golf : Drei Annahmen, was passiert sein könnte

Andreas Z. rast mit 135 Kilometern pro Stunde in ein stehendes Auto, sein Beifahrer stirbt. Ein Mord? Die Sachlage schien klar, bis Z. sich entschließt, selbst auszusagen. Drei Annahmen, was am 3. Januar passiert sein könnte.

Die Zeugin Sandra B. war die Erste, die vom dunkelblauen Golf überholt wurde, auf der Rückbank saß ihr dreijähriges Kind. Als der Golf nur knapp vor ihrer Motorhaube wieder einscherte und die L240 zwischen Eschweiler und Baesweiler weiter hochraste, dachte B. (1, siehe Grafik): „Was ist das für ein Idiot, der hier so fährt?“

Im nächsten Auto, das der Golf überholte, saß die Zeugin Regina W. (2). Der Golf fuhr so schnell, dass sie ihn erst im letzten Moment im Rückspiegel auftauchen sah. Im nächsten Moment knallte es gleich neben ihrem Kopf, der Golf hatte während des Überholens ihren linken Außenspiegel abgefahren. Aber anstatt anzuhalten, scherte der Golf kurz vor ihr wieder ein und setzte zum nächsten Überholvorgang an. Die Manöver waren offenbar derart riskant, dass Regina W. vor Gericht später von „Wahnsinn“ sprach.

Die Zeugin Heidrun F. (3) war in die andere Richtung unterwegs, als zwischen der Mülldeponie Warden und einem Toyota-Autohändler auf ihrer Fahrspur der dunkelblaue Golf als Geisterfahrer auftauchte. Im Radio lief „Gewinner“ von Clueso, später stellte sie im Internet fest, dass dieses Lied zwischen 17.42 und 17.45 Uhr an diesem Tag gelaufen war.

Heidrun F. bremste, vielleicht wich sie dem Golf auch aus, so genau konnte sie es dem Gericht einige Monate später nicht mehr sagen. In jedem Fall fuhr der Golf derart dicht an ihrem Auto vorbei, dass auch ihr Außenspiegel mit lautem Knall aus der Verankerung sprang. Der Golf raste weiter, Heidrun F. hielt in Höhe des Autohauses an und rief laut: „Boah, super! Was hab’ ich ein Schwein gehabt!“ So erzählte sie es später vor Gericht.

„Warum bremst der nicht?“

Zur gleichen Zeit überholte der dunkle Golf auf der Linksabbiegerspur Richtung A44 die nächsten Autos, bog allerdings nicht auf die Autobahn ab, sondern scherte wieder auf die rechte Spur ein und raste weiter geradeaus. Den nächsten Zeugen, Patrick S. (4), überholte der Golf hinter der Anschlussstelle der A44, S. sprach vor Gericht von „wahnsinniger Geschwindigkeit“. Die Zeugin Claudia H. (5) sah den Golf an sich vorbei- und auf die rote Ampel zurasen, an der Gerhard H. (8) in seinem BMW saß und auf Grün wartete, um auf die Jülicher Straße nach Alsdorf-Hoengen abzubiegen. Claudia H. dachte sich: „Warum bremst der nicht?“

Wie Claudia H. wurden auch Amalu H. (6), Sebastian S. (7) und Ruth C. (9) Augenzeugen der Kollision des Golfs mit Gerhard H.s BMW. Keiner der Zeugen hatte beobachtet, dass am Golf die Bremslichter aufgeleuchtet hätten, er raste mit mindestens 135 Kilometern pro Stunde ins Heck des BMW, wie später ein Verkehrssachverständiger errechnete.

Es war der 3. Januar 2019, ein Donnerstag, 17.45 Uhr.

Der Beifahrer im Golf starb wenige Stunden später im Aachener Klinikum. Gerhard H. (48), der im BMW gesessen hatte, wurde so schwer verletzt, dass er bis ans Ende seines Lebens querschnittsgelähmt bleiben wird. Und Theresa H. (30) kollidierte mit dem Wrack des Golfs, das auf die Gegenspur schleuderte, erlitt einen Schock und brach sich die Hand.

Kurze Zeit nach dem Unfall sagten die Eheleute Z. aus Alsdorf bei der Polizei aus, dass die beiden Insassen des Golfs verheiratet gewesen waren: Der Fahrer, Andreas Z. (46), und der gestorbene Beifahrer Dirk Z. (43), Sohn der Eheleute Z. Zwei Wochen vor dem Unfall hätten sich die beiden Männer getrennt, möglicherweise habe Andreas Z. den Unfall absichtlich herbeigeführt, um sich selbst und Dirk Z. aus Enttäuschung über die Trennung zu töten.

Die Aachener Staatsanwaltschaft, die bis dahin von einem Unfall ausgegangen war, leitete ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes gegen Andreas Z. ein, dem noch auf der Intensivstation des Würselener Rhein-Maas-Klinikums der Haftbefehl eröffnet wurde.

Der Prozess begann am 18. Juni vor dem Aachener Landgericht, es schien alles auf einen ziemlich klaren Fall und einen kurzen Prozess hinauszulaufen. Bereits am Ende des ersten Prozesstages bat der Vorsitzende Richter Roland Klösgen die Prozessbeteiligten, ihre Plädoyers vorzubereiten, was auf eine baldige Urteilsverkündung schließen ließ.

Doch dann, am zweiten Verhandlungstag, entschloss sich Andreas Z., der bis dahin geschwiegen und rein gar nichts zu den Vorwürfen gesagt hatte, endlich eine Aussage zu machen.

Andreas Z. ist ein intelligenter, redegewandter Mann, der seine Version der Ereignisse überzeugend vortrug. Die seit dem 15. Dezember 2018 getrennt lebenden Ehemänner hätten sich über Weihnachten wieder angenähert und ein probeweises Zusammenziehen in der ehelichen Wohnung in Langenfeld bei Leverkusen vereinbart. Dirk Z. war im Dezember vorübergehend wieder bei seinen Eltern in Alsdorf eingezogen.

Fassadenreiniger im Blut

Am 3. Januar 2019, sagte Andreas Z. aus, habe er um 10 Uhr mit Eistee verdünnten Fassadenreiniger getrunken, der das Lösungsmittel GBL enthält. Im Körper wird GBL zum in der Schwulenszene offenbar beliebten, ansonsten aber eher wenig konsumierten Betäubungsmittel GHB umgewandelt. Andreas Z. war süchtig. GHB ist eine Industriechemikalie, die in sogenannten K.o.-Tropfen verwendet wird, vorsichtig dosiert aber so ähnlich wirkt wie Alkohol.

Um 13.15 Uhr fuhr Andreas Z. von Langenfeld nach Alsdorf, um Dirk Z. abzuholen. Gemeinsam fuhren sie zu einer Neuropsychologin nach Köln, bei der Dirk Z. eine Therapie beginnen wollte, die nach einem schweren Unfall, den er im Mai 2016 im Drogenwahn erlitten hatte, notwendig geworden war.

Um 16.50 Uhr, nach dem Termin bei der Psychologin, seien sie von Köln aus über die A4 zurückgefahren. An der Abfahrt Eschweiler-West, sagte Andreas Z., sei er auf die L240 Richtung Baesweiler gefahren. Dass er wie von Sinnen gerast war, sei ihm während der Fahrt nicht bewusst gewesen; dass er zwei Außenspiegel anderer Autos abfuhr, hätten weder er noch sein Ehemann gehört.

Sie seien noch auf der A4 kurz vor der Abfahrt Eschweiler-West in heftigen Streit geraten, was die Entzugserscheinungen bei ihm verstärkt habe, sagte Andreas Z., die nächste Dosis GBL sei überfällig gewesen. Dass er auf den stehenden BMW zugerast sei, habe er erst bemerkt, als sein Ehemann zu schreien begonnen habe; da sei er nur noch 25 bis 30 Meter von dem Heck des BMW entfernt gewesen und habe nicht einmal mehr bremsen können.

 Aachen, 18. Juni: Prozessauftakt am Aachener Landgericht, Andreas Z., der Fahrer des Golfs am 3. Januar, versteckt sein Gesicht hinter einem Aktenordner.
Aachen, 18. Juni: Prozessauftakt am Aachener Landgericht, Andreas Z., der Fahrer des Golfs am 3. Januar, versteckt sein Gesicht hinter einem Aktenordner. Foto: dmp Press/Ralf Roeger

Richter Klösgen (60), ein brillanter Strafrechtler, der seine Prozesse mit großer Autorität führt und sich im Gerichtssaal höchst selten von Selbstzweifeln plagen lässt, geriet ins Nachdenken. Mit einem kurzen Prozess wurde es jedenfalls nichts.

Nach der mittlerweile beinahe abgeschlossenen Beweisaufnahme des Prozesses gibt es mindestens drei Annahmen über das, was am 3. Januar passiert sein könnte. Sie unterscheiden sich vor allem im zu erwartenden Strafmaß im Falle einer Verurteilung: Entweder wird Andreas Z. im Wesentlichen wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt, dann beträgt die theoretische Höchststrafe fünf Jahre Haft. Oder er wird wegen Mordes verurteilt, dann droht ihm lebenslange Haft. Ein gewaltiger Unterschied.

Annahme Nr. 1: Die Staatsanwaltschaft ging zu Prozessbeginn davon aus, dass Andreas Z. sich selbst und seinen Ehemann töten wollte. Er sei mit voller Absicht in den stehenden BMW gefahren. Dann wäre Z. des Mordes schuldig.

Was für Annahme Nr. 1 spricht: Andreas Z. wurde von mehren Zeugen als guter, sicherer Fahrer beschrieben, aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit war er ein erfahrener Vielfahrer. Das passt in keiner Weise zu seiner von anderen Zeugen geschilderten hochriskanten Fahrweise am 3. Januar auf der L240. Die psychiatrische Sachverständige des Prozesses, Dina Mörth aus Aachen, kann sich diese Fahrweise nur so erklären, dass er kurz vor dem Verlassen der A4 GBL konsumiert hat und auf der L240 unter starkem Einfluss der Droge stand. Oder aber, dass er mit voller Absicht so riskant gefahren ist und den Unfall bewusst herbeigeführt hat.

Als die Ärzte in Würselen Andreas Z. aus dem künstlichen Koma zurückholten und ihm am 10. Januar vom Tod seines Ehemannes berichteten, nahm Andreas Z. dies ohne größere emotionale Regung zur Kenntnis. Ähnlich schilderte es der Aachener Kriminalpolizist Michael Fritsch-Hörmann, der Andreas Z. auf der Intensivstation aufsuchte, um ihn zu vernehmen. Doch Z. machte damals keine Aussage.

Was gegen Annahme Nr. 1 spricht: Aufgrund seiner Probleme mit Drogen und Alkohol war Andreas Z. wiederholt in psychiatrischer Behandlung. Keiner der ihn behandelnden Ärzte hat jemals einen Hang zur Suizidalität erkannt, auch die psychiatrische Sachverständige des Prozesses nicht. Andreas Z. sei ein optimistischer Mensch mit robuster Psyche; stoisch, anpassungsfähig, davongelaufen sei er in seinem Leben eigentlich nie. Und dafür, dass Dirk Z. ihn wirklich verlassen wollte, fehlt es an Beweisen.

Vor allem aber spricht gegen diese Annahme, dass sie für Richter Klösgen offenbar nicht mehr in Frage kommt, wie er zu erkennen gab.

Annahme Nr. 2: Alles trug sich in etwa so zu, wie Andreas Z. es ausgesagt hat. Dann könnte er wahrscheinlich nur wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verurteilt werden.

Was für Annahme Nr. 2 spricht: Es gibt keinen Beweis dafür, dass Dirk Z. sich tatsächlich endgültig von Andreas Z. trennen wollte, es fehlt das Motiv für einen Mord. Die Kölner Neuropsychologin, bei der Andreas und Dirk Z. vor dem Unfall waren, sagte vor Gericht aus, dass die Männer als Paar einen guten Eindruck gemacht hätten.

Was gegen Annahme Nr. 2 spricht: Die Aussage von Andreas Z. klang überzeugend und nachvollziehbar, doch sie stimmt nicht. Zumindest nicht in allen Punkten. Zum einen legte der Verkehrssachverständige Eugen Babilon aus Alsdorf dar, dass es unmöglich sei, das Abfahren eines Außenspiegels zu überhören. Und zum anderen wies eine Kölner Toxikologin nach, dass im Blut von Andreas Z. zum Unfallzeitpunkt GHB war, er also anders, als er ausgesagt hatte, nicht um 10 Uhr morgens an diesem Tag zum letzten Mal GBL zu sich genommen hatte.

Die Halbwertszeit von GBL ist erheblich kürzer als die von Alkohol, nach 20 bis 56 Minuten ist die Hälfte der konsumierten Menge abgebaut. Die Frage ist: Wann und wo hat er zum letzten Mal GBL getrunken? Die Psychologin, bei der Andreas Z. mit seinem Ehemann gewesen war, hatte nicht feststellen können, dass Andreas Z. berauscht war – oder an Entzugserscheinungen gelitten hat.

Annahme Nr. 3: Es ist denkbar, dass Teile der Aussage von Andreas Z. stimmen, eine Verurteilung wegen Mordes aber dennoch in Frage kommt. Richter Klösgen sprach von der Möglichkeit, Andreas Z. wegen eines sogenannten Raser­unfalls verurteilen zu können. In mehreren Fällen waren Raser in jüngster Zeit wegen Mordes verurteilt worden. Wenn man dieser Rechtsprechung folgt, könnte es für einen Verurteilung wegen Mordes keinen Unterschied machen, ob Andreas Z. den Tod seines Ehemannes vorsätzlich herbeiführen wollte, oder ob er ihn aufgrund seiner Fahrweise billigend in Kauf nahm.

Was für Annahme Nr. 3 spricht: Fraglos ist Andreas Z. am 3. Januar auf der L240 auffallend riskant gefahren. Der Vorfall mit der Zeugin Heidrun K. (3), mit der er während des Überholens fast frontal kollidierte, sei nur „knapp gut gegangen“, wie Z. vor Gericht selbst einräumte. Psychiaterin Mörth attestierte Andreas Z. trotz vieler positiver Eigenschaften auch Rücksichtslosigkeit und Egozentrismus und nannte drei Beispiele:

1.) Andreas Z. versuchte im Herbst 2018, Dirk Z. nach seinem schweren drogenbedingten Unfall dazu zu überreden, wieder GBL/GHB zu konsumieren, um das eheliche Sexualleben in Schwung zu bringen.

2.) Trotz seiner HIV-Infizierung führte Andreas Z. weiterhin ein ausschweifendes Sexualleben mit wechselnden Partnern.

3.) Obwohl Andreas Z. wusste, dass jede Gehirnerschütterung für Dirk Z. nach seinem Unfall 2016 tödlich hätte enden können, fuhr er am 3. Januar nach den Aussagen mehrere Zeugen wie ein Wahnsinniger die L240 entlang.

Was gegen Annahme Nr. 3 spricht: Vor allem die Tatsache, dass Andreas Z. anders als die zuletzt wegen Mordes verurteilten Raser offensichtlich kein Rennen auf öffentlichen Straßen gefahren ist. Für ein Rennen fehlte es an Konkurrenten. Doch der größte Nachteil dieser Theorie ist, dass sie juristisch außerordentlich schwer zu begründen ist.

Und dann ist da noch das Problem, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, wie stark das konsumierte GBL/GHB zum Zeitpunkt des Unfalls auf Andreas Z. gewirkt hat. Und wann er es getrunken hat.

Richter Klösgen will sein Urteil am 19. Juli um 11 Uhr verkünden.