Düren : Die mit den Hirschen röhrt
Düren Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Die Frage des guten Tons ist für Hildegard Zervos aus Oberzier bei Düren äußerst wichtig. Schließlich ist die 65-Jährige ambitionierte Hirschruferin — und ihr guter Ruf eilt ihr voraus.
Kürzlich war sie Ehrengast bei der ersten französischen „Hirschbrunft-Meisterschaft“ im Elsass und stimmte — begleitet von zwei weiteren Deutschen — die Teilnehmer und Gäste auf den Wettkampf ein. Das klingt ja alles sehr gut, aber was machen Hirschrufer eigentlich? Nun, Hirschrufer sind Menschen, die voller Leidenschaft und mit ausgeklügelter Atemtechnik Meeresschneckenhäuser, Plastikröhren oder hohle Ochsenhörner unter Luftdruck setzen und dabei Töne produzieren, die im Idealfall für Hirsche wie Brunftschreie klingen. Vereinfacht gesagt.
Über Generationen nutzten Jäger die nachgeahmten Brunftschreie, um den Hirsch aus der Deckung zu locken. Doch Hildegard Zervos ist keine Jägerin. Sie bezeichnet sich selbst als Naturmensch, der eher per Zufall auf dieses recht außergewöhnliche Hobby stieß — und mittlerweile schon mehrfach bei der Deutschen Meisterschaft der Hirschrufer in Dortmund teilnahm. Übrigens als erste und bislang einzige Frau. So war es auch im Elsass. Das Hirschrufen war und ist eine Männerdomäne. Noch, denn Hildegard Zervos arbeitet fleißig daran, auch Frauen für dieses Hobby zu gewinnen.
„Ich liebe die Natur. Jede freie Minute bin ich mit meinem Hund im Wald“, sagt Hildegard Zervos. Deshalb wurde sie auch zur Stammbesucherin der Messe „Jagd und Hund“. Dort geht unter anderem die Hirschrufer-Meisterschaft über die Büh- ne, die Hildegard Zervos schon viele Jahre verfolgt hatte. „In Monschau habe ich es dann zum ersten Mal ausprobiert“, sagt sie. Bei der Jagdveranstaltung „Halali“ griff sie zu einem geliehenen Horn und röhrte das erste Mal vor einer Jury. Sie landete ziemlich weit vorne. Es war die Grundsteinlegung für ihr Hobby.
Eine Minute im Rampenlicht
„Einer guten Freundin, die mich jedes Mal auf die Messe begleitet hatte, habe ich es zu verdanken, dass ich plötzlich auf der Teilnehmerliste der Deutschen Meisterschaft stand“, erzählt sie augenzwinkernd. 2011 war das. „Ich wusste davon lange Zeit nichts“, sagt sie. Bis ein Anruf der Veranstalter kam. Eine gute Minute stand Hildegard Zervos im Rampenlicht, führte einige Hirschrufe vor. Den Rest entschied die Jury. Sie landete auf Platz neun — bei neun Teilnehmern. „Da waren nur Profis mit langjähriger Erfahrung am Start, da hatte ich keine Chance“, bilanziert sie. Spaß gemacht habe es dennoch. Mit dem Medienrummel allerdings hatte sie nicht gerechnet. Eine Frau unter Hirschrufern — das wollte sich niemand entgehen lassen. „Ein TV-Sender hat später einmal angefragt, ob ich nicht an einer Show teilnehmen möchte“, berichtet sie. „Nachdem ich mir die Sendung probeweise angeschaut habe, habe ich dankend verzichtet.“ Hirschrufen möge ja zunächst etwas komisch klingen, aber es stecke viel Arbeit und Leidenschaft dahinter und sei eine ernsthafte Beschäftigung mit der Natur und dem Wesen der Tiere. „Da muss ich mich nicht im Fernsehen vorführen lassen“, findet Hildegard Zervos.
Regelmäßig greift sie zu ihrem Ochsenhorn und übt. Verschiedene Rufe gehören zum Repertoire. Der junge Hirsch röhrt schließlich anders als der selbstbewusste Platzhirsch: zaghafter, fragender, mit deutlich weniger Kraft. Das, was Hildegard Zervos ihrem Horn entlockt, klingt sehr nach Hirsch, ist aber mit Worten kaum zu beschreiben. Sie hat mehrere CDs, auf die sie für ihre Übungen zurückgreift. Das Horn übrigens hat sie selbst präpariert. Eine Bekannte hat das Stück im Internet bestellt. Mit der Bohrmaschine, Metallbohrern und viel Ausdauer hat die 65-Jährige das Horn so lange traktiert, bis der Klang passte. Übung macht den Meister — das gelte beim Hirschrufen ebenso wie beim Basteln eines Hirschrufer-Ochsenhorns.
Hildegard Zervos wünscht sich, dass mehr Frauen die Platzhirsche der Szene herausfordern. „Bei der jüngsten Deutschen Meisterschaft haben 19 Rufer teilgenommen. Leider war ich weiterhin die einzige Frau“, bedauert sie. Aber es freue sie, dass junge Teilnehmer dabei waren, die sich offenbar von Hildegard Zervos inspiriert gefühlt haben — und es auch einmal wagen wollten. „In anderen Länden, beispielsweise in Regionen Osteuropas, hat das Hirschrufen eine ganz lebendige Tradition“, berichtet Hildegard Zervos. In unseren Breiten sei dieses waidmännische Handwerk etwas eingeschlummert.
Was sie sich für die Zukunft vornimmt? Ob sie einmal Deutsche Meisterin werden möchte? Hildegard Zervos winkt ab. Dabei sein ist alles — für sie zähle bei ihrem Hobby eindeutig der Olympische Gedanke. Gibt es denn gar keinen Wunsch? „Ich möchte schon seit Jahren einmal mit zur Brunft mitgenommen werden“, sagt sie nach einigen Augenblicken Bedenkzeit. Man mag es kaum glauben, aber die 65-Jährige hat in all den Jahren noch nie einen Hirsch röhren hören. Nun ja, auf CDs und in Fernsehdokumentationen, aber eben noch nie „in Echt“.
Im Elsass haben die Hirschrufer zwar vor der fachkundigsten Jury der Welt gestanden — doch es war noch keine Brunftzeit und die Hirsche haben allenfalls kurz den Kopf gehoben. „Es müsste mir doch gelingen, in der Brunft einen Hirsch hervorzulocken“, sagt Hildegard Zervos. Für diesen Augenblick hat sie schließlich lange genug geübt.