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Kölner Archiv-Einsturz : Das Urteil ist gesprochen, die Wunde bleibt

Kölner Archiv-Einsturz : Das Urteil ist gesprochen, die Wunde bleibt

48 Verhandlungstage, 79 Zeugen, vier Angeklagte und unvorstellbare 100.000.000 Seiten Ermittlungsakten – das sind die Eckdaten eines der aufwendigsten Gerichtsprozesse in der Kölner Justizgeschichte. Am Ende stehen eine achtmonatige Bewährungsstrafe für einen Bauüberwacher der KVB und drei Freisprüche.

Womöglich gibt es noch mehr Schuldige für den Einsturz des Stadtarchivs im März 2009 und den Tod zweier junger Männer. Aber wen genau und warum – das konnte das Gericht nicht klären. „Es steht zu befürchten, dass die Betroffenen ihr Wissen mit ins Grab nehmen“, sagte der Vorsitzende Richter Michael Greve.

Es ist 13.45 Uhr am 3. März 2009, als die Arbeiter in der U-Bahn-Baugrube am Waidmarkt plötzlich nasse Füße bekommen. Schlamm, Kies und Wasser schießen durch eine Betonschlitzwand in die gigantische Grube. Die Männer wissen nicht genau, was das zu bedeuten hat, aber sie ahnen, dass gleich etwas Schlimmes geschehen wird. „Raus! Raus hier! Alle raus!“, brüllt der Polier.

Er sei froh, sagt Richter Greve neuneinhalb Jahre später, bei der Urteilsverkündung am Freitag, dass die Einsturzursache im Prozess „zweifelsfrei“ geklärt werden konnte. Kein Naturereignis, kein Zufall, sondern ein Baufehler. Pfusch. Daran, so Greve, gebe es „keinen Zweifel“.

Beim Aushub der Grube stießen Arbeiter demnach 2005 in Lamelle 11 auf einen Gesteinsblock in 22 Metern Tiefe. Er ließ sich nicht beseitigen, die Greifzähne des Baggers brachen ab. Das Hindernis blieb schließlich einfach im Boden. Darüber wurde die Schlitzwand mit Beton verfüllt, unter dem Stein blieb das Erdreich an Ort und Stelle, weil kein Beton dorthin fließen konnte.

Als später beim Aushub der gesamten Baugrube mit zunehmender Tiefe der Grundwasserdruck von außen größer wurde, gab die Wand in Lamelle 11 nach. Kies, Erde und Wasser schossen in die Grube. Dem Stadtarchiv wurde laut Gericht „der Boden unter den Füßen weggezogen“, das Gebäude stürzte nach vorne in die Baustelle. Alternative Erklärungen seien ausgeschlossen, betonte Greve.

Das Gutachten eines Geotechnikers aus Wuppertal, den die Verteidiger der vier Angeklagten beauftragt hatten und der eine plötzliche Bodenbewegung im Untergrund als Ursache sieht, nahm der Richter krachend auseinander. Der Professor aus Wuppertal habe Asservate nur „sehr rudimentär“ zur Kenntnis genommen, er habe Spekulationen und Vermutungen angestellt und – anders als die übrigen Sachverständigen im Prozess – mit seinen Ausführungen Verwirrung gestiftet. Derartiges, so Greve, habe er in seiner gesamten Laufbahn noch nicht erlebt.

28 Meter über der Grubensohle sitzt Manfred L. in seinem Seilbagger. Er zieht die Kiesladungen nach oben und kippt sie auf einen Lastwagen. Ein Mann läuft aufgeregt an ihm vorbei. L. springt aus seinem Führerhaus, sieht, wie seine Kollegen ihm entgegenklettern, hört die „Raus! Raus!“-Rufe des Poliers. Der Bürgersteig sackt weg. Manfred L. rennt zum Archivhaus, donnert mit den Fäusten gegen die Scheibe, fordert die Besucher des Lesesaals mit Handzeichen und Rufen auf, sich sofort in Sicherheit zu bringen.

Es grenze an ein Wunder, sagt Richter Greve, dass der Einsturz des Archivs und zweier benachbarter Wohnhäuser nicht mehr als zwei Tote und keinen einzigen Verletzten gefordert habe. „Das war der schnellen Reaktion der Arbeiter zu verdanken, aber auch einer glücklichen Fügung.“

Für den Bauüberwacher der KVB, Manfred A., sei das Ereignis vorhersehbar gewesen, urteilt das Gericht. Obwohl Mitarbeiter ihm gegenüber das Hindernis in der Schlitzwand zu verschleiern versuchten, hätte A. merken müssen, „dass in Lamelle 11 etwas nicht stimmt“ – und das ohne großen Aufwand. Die Gefahren einer undichten Schlitzwand hätten ihm bewusst gewesen sein müssen. Er habe „unbewusst fahrlässig“ gehandelt.

Die freigesprochenen Bauleiter zweier Baufirmen hatten im Prozess nicht ausgesagt – ihr gutes Recht. Für beide hatte die Staatsanwalt ebenfalls Bewährungsstrafen gefordert. Das Gericht urteilte anders. Beide hätten zwar Sorgfaltspflichten vernachlässigt. Es sei aber – anders als bei Manfred A. – nicht nachzuweisen, dass dies maßgeblich für den Einsturz war. Die vierte Angeklagte, eine Bauüberwacherin der KVB, auf deren Freispruch auch die Staatsanwaltschaft plädiert hatte, hat nach Ansicht des Gerichts keine Pflichten verletzt.

Viele Aussagen des verurteilten Manfred A. im Prozess zieht Greve in Zweifel, wertet sie als Schutzbehauptungen. Der Richter stellt fest, der 57-Jährige habe eine lange, gewissenhaft geführte Berufslaufbahn hinter sich – und 2005 einen folgenschweren Fehler gemacht.

Im nächsten Moment sackt das Archiv in sich zusammen und stürzt auf die Straße. Trümmer schlagen wenige Meter vor einem Bus auf. Ein Lastwagen stürzt zwölf Meter tief in den Krater. Jahrhunderte alte Archivalien versinken im Schlamm.

95 Prozent der verschütteten Dokumente konnten gerettet werden. Bis das letzte restauriert ist, vergehen noch Jahrzehnte. Wer finanziell für den Schaden haftet, soll ein demnächst beginnender Zivilprozess klären. Vor Gericht läuft zurzeit noch ein zweiter Strafprozess gegen einen Oberbauleiter. Die Staatsanwaltschaft und die Verteidiger von Manfred A. prüfen indes, ob sie gegen das Urteil von Freitag Revision einlegen. Dazu haben sie nun eine Woche Zeit.

(dpa)