Tödliches Zuckergemisch von Apotheke : „Dafür braucht man kriminelle Energie“
Eschweiler-Bergrath Eine Mutter und ihr ungeborenes Kind starben in Köln, nachdem sie eine Zuckerlösung aus einer Apotheke tranken. Wie konnte das passieren? Ein Gespräch mit einem Apotheker aus der Region über den Fall, der die ganze Branche erschüttert hat.
Es ist die totale Fassungslosigkeit, die sich in Markus Schlicke breitgemacht hat. „Das beschäftigt mich derart, dass ich nachts schon davon geträumt habe“, sagt der 45-Jährige. Und meint damit den Tod einer 28 Jahre alten Frau und ihres ungeborenen Säuglings nach der Einnahme eines eigentlich völlig harmlosen Zuckergemischs aus einer Kölner Apotheke.
An diesem Morgen steht Markus Schlicke in seiner eigenen Apotheke im beschaulichen Eschweiler Stadtteil Bergrath. Alles läuft wie immer. Kunden kommen, lösen Rezepte ein oder kaufen dieses oder jenes Medikament gegen diesen oder jenen Schmerz. Markus Schlicke beantwortet Fragen, gibt Hinweise und Ratschläge. Business as usual in den Geschäftsräumen an der Kopfstraße. Könnte man meinen. Aber das ist nur die eine Seite.
Seit dem unglaublichen Fall in Köln ist für einen Apotheker manches gar nicht normal. In der Apotheke sprechen Schlicke und seine sieben Mitarbeiterinnen darüber, klar. Aber das Thema zieht sich auch in die Familien, in den Freundeskreis. „Auch zu Hause wird man dazu gefragt“, sagt Schlickes Kollegin Marina Berks, ebenfalls Apothekerin. Über allem schwebt die große Frage: Wie konnte das passieren?
Eine Antwort darauf zu finden, fällt dem langjährigen Fachmann wie vermutlich den allermeisten vom Fach schwer. Fassungslosigkeit eben. „Er ist ein sehr bekannter Apotheker“, meint Schlicke mit Blick auf den Inhaber der Heilig-Geist-Apotheke im Kölner Stadtteil Longerich, der zudem noch zwei weitere Apotheken betreibt, die von den Behörden allesamt geschlossen wurden.
Aus der Longericher Filiale kam das Glukosemittel, mit dem die schwangere 28-Jährige ihren Diabetesstatus beim Gynäkologen feststellen lassen wollte. Das Gemisch enthielt jedoch offenbar ein Narkosemittel. Die Einnahme führte bisherigen Erkenntnissen nach zum Tod der Frau, deren Kind man noch per Notkaiserschnitt zu retten versuchte – vergeblich.
„Wo soll denn das Motiv sein?“
Markus Schlicke kann sich kaum vorstellen, wer das Gift in die Zuckerlösung mischte – und vor allem, warum. Der Apotheker selbst? Das kann sich Markus Schlicke – er kam 2005 aus der Pfalz nach Aachen, arbeitet seit 2005 in Bergrath und übernahm 2010 das Geschäft von seinem Vorgänger – nicht vorstellen. Der Apotheker aus Köln ist nicht nur Apotheker.
Er unterrichtet an der Lehranstalt für Pharmazeutisch-Technische Assistenten (PTA) Arzneimittel- und Gesetzeskunde. Er bildet also den Nachwuchs aus. Seit 2001 ist er überdies Mitglied der Vollversammlung der Apothekerkammer Nordrhein. Unter anderem ist er auch noch Mitglied der Arzneimittelkommission der deutschen Heilpraktiker. Die PTA-Lehranstalt wurde von seinem Vater gegründet, einem nicht minder angesehenen Apotheker.
„Wo soll denn da ein Motiv sein?“, fragt sich Markus Schlicke anders als etwa im Bottroper Fall, wo ein Apotheker aus Geldgier Krebsmedikamente fälschte. Eine der Fragen, die sich auch die Kölner Staatsanwaltschaft und eine Mordkommission der Kölner Kripo stellen, die unter Hochdruck wegen des Verdachts eines Tötungsdeliktes gegen Unbekannt ermitteln. Es bleiben Außenstehenden also nur Vermutungen oder Spekulationen.
Fakt ist für Markus Schlicke eines: „Das Narkosemittel kann jedenfalls nicht einfach so in die Glukosemischung gelangt sein.“ Er selbst habe dieser Tage noch mit einem Notfallmediziner darüber gesprochen. Narkosemittel seien in der Regel in Ampullen abgefüllt, damit man sie im Bedarfsfall schnell verabreichen kann. Und selbst wenn es in anderer Form in der Apotheke vorrätig gewesen sein sollte, könne es nicht aus Versehen untergemischt worden sein. Markus Schlicke glaubt: „Dafür braucht man schon einige kriminelle Energie.“
Ein Versehen? Eher unrealistisch.
Um das besser nachvollziehen zu können, hilft ein Blick hinter die Kulissen der Apotheke Bergrath. Zur Demonstration stellt Markus Schlicke – er hat seinen Beruf von der Pike auf gelernt, machte zunächst eine PTA-Ausbildung und absolvierte dann sein Pharmaziestudium – an diesem Morgen besagte Glukosemischung her. Was eigentlich kinderleicht ist.
Schlicke nimmt eine Dose mit der Aufschrift Glukose-Monohydrat aus einem Schrank. Im Volksmund heißt der Stoff schlicht Traubenzucker. Er wiegt eine gewisse Menge ab. In einem Messzylinder wird nun noch destilliertes Wasser abgefüllt, zum Traubenzucker gegeben und das Ganze dann mit einem Magnetrührgerät vermischt. Fertig ist die klare Lösung. Nach festen Vorschriften könnte man nun noch Geschmacks- oder Konservierungsstoffe hinzugeben. Das war’s dann aber auch.
Weit weg von der Herstellung des Mittels sind bedenkliche oder gar giftige Stoffe. Eine Kontamination aus Versehen? Unvorstellbar. Stoffe mit Gefährdungspotenzial stehen in einem gesonderten, abgeschlossenen Schrank. Und es gibt auch noch einen Tresor. In dem lagern Dinge, die ganz und gar nicht in unbefugte Hände gehören: Betäubungsmittel, Morphine zum Beispiel. Wenn nun jemand Schindluder treiben und eine harmlose Glukosemischung mit Narkotika versetzen wollte, „dann müsste er schon einbrechen“, so Schlicke. Während der Öffnungszeiten ist ohnehin ein Apotheker in den Geschäftsräumen vorgeschrieben.
Dass ein Stoff schon falsch angeliefert wurde, ist ebenfalls kaum denkbar. In einer Ecke des Labors stehen die „Neuankünfte“. Bevor sie verwendet werden, wird geprüft, ob auch wirklich das in der Packung ist, was auf dem Etikett steht. Dazu gibt es wiederum einen ganzen Schrank mit entsprechenden Prüfsubstanzen. Anschließend wird alles penibel protokolliert und dokumentiert. Das gilt auch für die Herstellung von Arzneien.
Wie im jeweiligen Fall vorzugehen ist, besagt das „Neue Rezeptur-Formularium“, kurz NRF. Es umfasst eine ganze Reihe von Bänden mit tausenden Seiten an Anleitungen. Natürlich sind da auch Rezepturen dabei, die deutlich komplizierter sind als die ziemlich banale Zuckerlösung. Da geht es dann auch schonmal um Bruchteile eines Gramms.
Für solche Dimensionen steht im Labor eine Präzisionswaage, die bis auf vier Stellen hinter dem Komma genau ist. „Da muss man sogar die Tür schließen, weil selbst ein Luftzug schon die Werte ändern kann“, erzählt Schlicke. Am Ende gilt das Vier- oder sogar Sechs-Augen-Prinzip. Alles wird von Kollegen nochmal genauestens überprüft, dokumentiert und abgezeichnet.
„Alles wird auf links gedreht“
Fast reflexartig ist nach dem Kölner Fall die Frage aufgekommen, ob die Kontrolle der Apotheken zu lasch ist und verschärft werden müsste. Das kann Markus Schlicke überhaupt nicht nachvollziehen. Die Kontrollen seien nämlich bereits sehr umfangreich: „Mehr geht eigentlich nicht“, so der Apotheker. Turnusmäßig werde man von der Amtsapothekerin des städteregionalen Gesundheitsamtes unter die Lupe genommen. Schlicke: „Da wird alles auf links gedreht. Die Revision ist penibler als beim Finanzamt.“
Protokolle und Dokumentationen sind dabei das eine, aber auch Dinge wie der Abstand der Verkaufspunkte – er müsse zwei Meter betragen – oder aber das Vorhandensein von „Diskretionsmatten“ werde kontrolliert. Vorschriften türmten sich zu Aktenbergen, permanent kämen neue hinzu. Ein umfangreiches Qualitätsmanagement müsse überdies nachgewiesen werden.
Marina Berks sagt vor diesem Hintergrund, dass aus ihrem Berufsalltag heraus betrachtet das Geschehen in Köln noch unbegreiflicher erscheine. Städteregionssprecher Detlef Funken kann das nur unterstreichen: „Die rund 150 Apotheken in der Städteregion werden im dreijährigen Rhythmus einer gründlichen Prüfung unterzogen.“ Und: „Wir tun im Rahmen unserer Möglichkeiten alles in unserer Macht stehende, um so etwas wie in Köln zu verhindern.“ Anders dürfte das auch nicht in den Apotheken in den umliegenden Kreisen Düren und Heinsberg aussehen.
Aber auch die beste Kontrolle, so Funken, könne so etwas nicht gänzlich unmöglich machen. Die Kölner Ermittler haben indes bislang noch keine gesichterten Erkenntnisse darüber, was hier genau vorgegangen ist. „Es werden nach wie vor Zeugen und Mitarbeiter befragt“, sagt Ulrich Bremer, Sprecher der Kölner Staatsanwaltschaft.
In der Apotheke in Bergrath geht derweil der Alltag weiter. Marina Berks sagt, dass sie bei den Kunden – viele kommen schon lange – weiterhin das Vertrauen spüre. Markus Schlicke ärgert sich dennoch, dass ein solcher Fall die Gefahr berge, „dass ein ganzer Berufsstand in Misskredit gebracht wird“. Man werde bisweilen von Kunden auf den Kölner Fall angesprochen. Er bringe dann das zum Ausdruck, was er in erster Linie empfindet: Fassungslosigkeit.