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Theologe Eugen Drewermann im Interview

Theologe Eugen Drewermann : „Die Kirche hat sich selbst zum Thema gemacht“

Der 2005 aus der katholischen Kirche ausgetretene Theologe kritisiert im Interview: Auch Jesus würde die Sprache der Amtsträger heute nicht mehr verstehen.

Herr Drewermann, wenn Menschen heute über Kirche reden, ist in den meisten Fällen von Missbrauchsfällen die Rede. Haben wir verlernt, über Gott und Glauben zu sprechen?

Drewermann: Wir haben in unserer Gesellschaft fast unbewusst die religiöse Dimension unserer Existenz verloren. Es wird von Gott schon deshalb nicht mehr gesprochen, weil viele damit Unterdrückung, patriarchale Dominanz, Intoleranz, dogmatische Vorstellungen und Gewissenszensur verbinden. Diese Kette ist unendlich, die die Kirche geknüpft hat, um Gott nicht mehr länger zu verkünden, sondern ihn vor den Augen der Menschen fast unsichtbar zu machen.

An welchem Punkt hat das Ihrer Meinung nach seinen Anfang genommen?

Drewermann: Na ja, schon Sigmund Freud hat Anfang des 20. Jahrhunderts der Menschheit eine bessere Zukunft gewünscht, als in der infantilen Abhängigkeit der Frömmigkeit zu leben – wie er sie in seinen Tagen kennengelernt hat. Und 100 Jahre davor haben Marx und Feuerbach in der Religion ein Unterdrückungsinstrument der Herrschenden gesehen – auf Kosten der leidenden und arbeitenden Klasse. Das alles sind Verstellungen, die es schwer machen, von Gott so zu reden, wie es Jesus gemeint hat: als eine befreiende Botschaft der Vergebung und der Güte, des Vertrauens und der Hoffnung.

In den Diskussionen über Missbrauch innerhalb der Kirche ist davon kaum noch etwas zu spüren.

Drewermann: Ich behaupte, dass die Sexualstraftäter in der Kirche Opfer eines Systems sind, das ihnen Freiheit im Umgang mit sich selbst, gerade in der Bedürftigkeit nach Liebe und Gemeinsamkeit, nicht gestattet hat. Die Kirche unterdrückt bis heute Sexualität mit einer Moral, die vorgibt, selbst von Gott zu sein. Davor hat die Kirche Angst: sich selbst infrage zu stellen, in ihrer Moral, in ihren Strukturen und ihren institutionalisierten Formen, mit denen sich das Bild des Priesters überhöht hat, als sei dieser etwas ganz Besonderes. Da ist die Kirche selbst schuldig geworden an den Leuten, die sie jetzt auch unter Staatsaufsicht allzu eilig schuldig spricht. Die Kirche hat großes Unrecht getan, die Priester, die schuldig wurden, in andere Pfarreien zu versetzen und weitermachen zu lassen – auch um sich selbst zu schützen. Das alles ist unverantwortlich.

Ist das Rücktrittsangebot von Kardinal Reinhard Marx die richtige Geste gewesen, mit der er auch das System infrage stellte? Und hat der Papst richtig gehandelt, dieses Angebot nicht anzunehmen?

Drewerman: Marx spricht selber von systemischer Schuld. Diesem System hat er selbst allzu lange angehört. Das sieht er als Fehler, und so kann er dem Papst vielleicht helfen, etwas zu verändern.

Kann Glaube überhaupt und in diesen ungewissen Zeiten anhaltender Bedrohung helfen?

Drewermann: Wir hoffen gerade, das Virus ausrotten und dann wieder frei werden zu können. Das ist ein Albtraum falschen Denkens. Wollen wir wirklich eine Sicherheit auf Kosten aller Freiheit? Wir können mit der einfachen Tatsache der Endlichkeit unseres Daseins nicht so umgehen. Die alten Griechen sagten: Weise werden heißt sterben lernen. Ein wunderbarer Satz. Ich bin über 80 Jahre alt und weiß genau, was damit gemeint ist. Aber wer vermittelt das heute? Seit 2000 Jahren feiern wir zu Ostern die Auferstehung. Das ist genau der Inhalt von Hoffnung, der in unserer Gesellschaft heute keine Rolle mehr spielt und als Aberglauben bekämpft wird. Wir reduzieren uns auf die wenigen Jahre unserer irdischen Existenz. Unsere letzte Hoffnung scheint zu sein: Wir werden durchgeimpft und beleben wieder im Kaufrausch die Wirtschaft. Das ist so irrsinnig.

Würden Sie sagen, dass die Kirche in sich selbst gefangen ist? Und wie kann sie aus einer solchen Erstarrung herauskommen?

Drewermann: Die Kirche hat sich selbst zum Thema gemacht, statt die Botschaft Jesu zu vermitteln, letztlich zum Schaden ihrer selbst. Verantwortlich ist dafür auch eine Fehlausrichtung der Theologie: Jesus hat nie von Gott in der Art gesprochen wie es unsere Theologen seit jetzt fast 800 Jahren tun. Ich behaupte, dass Jesus die Sprache der Theologie seit dem 3. Jahrhundert selbst nicht verstanden hätte. Sie ist eine Machtsprache. Das hat nichts mehr mit Glauben zu tun. Es ist die Sprache der Schriftgelehrten wie in den Tagen Jesu; und sie gehörten zu seinen ärgsten Gegnern. Deren Sprache ist das Instrument einer wissenden Schicht, die nur noch zum Nachsprechen weitergegeben wird – aber nicht mehr zum Glauben führt. In dieser Sprache können Eltern nicht mehr ihre Kinder trösten, wenn es darauf ankommt. Wie man etwa über Schuld redet, statt sofort nach Strafe zu rufen, wie man Güte vermittelt, die dem Menschen guttut, weil sie heilend wirk t in der Beruhigung von Angst. Jesus hat in Gleichnissen gesprochen, er hat poetisch geredet, aber doch nicht dogmatisch! Das alles wirkt innerlich nicht mehr, es hat sich reduziert auf sakramentale Zeichenhandlungen.

Was wollte Jesus stattdessen?

Drewermann: Die völlige Umwandlung der Menschen von Angst in Vertrauen, von Aggression in Verständnis, von Grausamkeit in Güte.

Verstehen die Menschen das Revolutionäre der Botschaft nicht mehr?

Drewermann: Absolut. Bei Jesus gibt es keine Herren über uns. Wir aber erwarten das Heil buchstäblich von der Politik. Wir streben nach einer Umwandlung der Gesellschaft von einer Rechtsgemeinschaft zu einer Sicherungsgemeinschaft. Das alles ist so weit weg von dem, was Jesus meinte. Nämlich frei zu sein, unabhängig und selbstbestimmt, in der Erfahrung, geliebt zu sein. Menschliche Beziehungen basieren nicht auf Herrschaft und Angst, sondern auf wechselseitiger Anerkennung, Toleranz und Güte. Doch in der Religion des Kapitalismus leben wir gewalttätig, ausbeuterisch, wachstumsfetischistisch und zerstörerisch. Die Botschaft Jesu heißt: Uns gehört auf dieser Welt gar nichts, alles, was wir sind, verdanken wir Gott. Unser Leben ist gewissermaßen nur eine Leihgabe für die wenigen Jahre, die wir auf Erden sind.