Debatte um Sinn von AHA-Regeln : Aerosol-Forscher kritisiert Absage von Weihnachtsmärkten
Interview Düsseldorf Hygienemaßnahmen wie die AHA-Regel entsprechen nicht mehr dem aktuellen Erkenntnisstand, sagt Aerosolexperte Gerhard Scheuch. Statt Veranstaltungen im Freien zu reglementieren, sollte der Fokus mehr auf Innenräume gelegt werden. Dort lauere die hauptsächliche Gefahr.
Angesichts der nach wie vor hohen Infektionszahlen kritisieren einige Wissenschaftler, unter ihnen der Aerosolforscher Gerhard Scheuch, dass die Hygienemaßnahmen nicht den aktuellen Forschungsstand berücksichtigen. Untersuchungen hätten zum Beispiel gezeigt, dass die routinemäßige Oberflächen- und Händedesinfektion in der Coronavirus-Pandemie keinen Nutzen habe, außerdem bestehe im Freien so gut wie keine Ansteckungsgefahr. Statt Weihnachtsmärkte abzusagen, hätte die Politik sich laut Scheuch mehr auf die Situation in Innenräumen konzentrieren müssen. Denn auch dort gebe es Vierbesserungsbedarf.
Hätte man die Prioritäten bei den Hygienemaßnahmen an den aktuellen Kenntnisstand anpassen müssen?
Gerhard Scheuch: Ich hätte das getan. Nachdem wir festgestellt haben, wie und wo die Übertragungen stattfinden, hätte man das anpassen sollen. Wenn übers Händewaschen gesprochen wird oder Wirte in ihren Räumen Desinfektionsspender aufhängen, merkt man, dass es noch nicht richtig angekommen ist, wie die Infektion funktioniert. Das ist schade. Man hält sich dann möglicherweise an Maßnahmen, die nichts nutzen; und diejenigen, die etwas bringen, die werden vernachlässigt. Es müsste nicht AHA-plus-L-Regel heißen, sondern L-plus-AHA-Regel, weil es am wichtigsten ist, ins Freie zu gehen oder frische Luft ins Zimmer zu lassen. Das wird aber zu sehr vernachlässigt. Händewaschen bringt uns in der Pandemie sicher nicht weiter.
Ihren Aussagen nach spielt das sogenannte Nahfeld, also der Abstand zwischen zwei Menschen, zumindest im Freien für die Übertragung keine entscheidende Rolle?
Scheuch: Wir vermuten das zumindest. Wenn es eine große Rolle spielen würde, hätten wir mehr Ansteckungen im Freien. Nahfeld heißt ja, ich stehe in der Aerosolwolke des anderen und bekomme diese quasi ins Gesicht gepustet. Das passiert natürlich draußen wie drinnen, aber da es fast keine Ansteckungen draußen gibt, vermuten wir, dass das Nahfeld dort nicht die große Rolle spielt. Nach dem Fußballspiel des 1. FC Köln gegen Gladbach wurde ja polemisiert, dass man solche Bilder nicht mehr sehen wolle. Man hat aber eine Woche später festgestellt, dass sich dabei so gut wie niemand infiziert hat. Zwar gab es eine steigende Inzidenz in Köln, dies war aber laut Gesundheitsamt nur auf Innenraumprobleme zurückzuführen, etwa auf private Feiern und Partys sowie einen Ausbruch in einem Altenheim. Und nicht auf das Fußballspiel. Wenn das Nahfeld eine Rolle spielen würde, dann müsste man bei so einem Spektakel entsprechende Infektionen beobachten.
Das heißt aber auch, dass Ihrer Meinung nach Rosenmontagszüge stattfinden könnten, solange die Menschen nicht in den Kneipen feiern. Auch Weihnachtsmärkte wären demnach sicher.
Scheuch: Das Feiern in den Lokalen sollte man untersagen. Aber einen Rosenmontagszug stattfinden zu lassen, hielte ich sogar für sinnvoll, weil die Leute an die frische Luft gehen. Da ist das Ansteckungsrisiko genau so gering wie auf den Weihnachtsmärkten. Sorgen um Ansteckung muss man nur bei Partys in Innenräumen haben, das zeigt ja auch das Kölner Beispiel. Das ist die Gefahr. Deshalb sind wir Aerosolforscher auch ein wenig verwundert, dass man jetzt die Aktivitäten im Freien so in den Fokus rückt, obwohl sie zum Ansteckungsrisiko wenig bis nichts beitragen. Damit wird von der eigentlichen Problematik in den Innenräumen abgelenkt, da müssen wir mehr tun.
Sie kritisieren zum Beispiel, dass man am Platz im Restaurant die Maske abnehmen darf.
Scheuch: Das ist auch so eine Regel, die ich nicht verstehe und von der ich nicht weiß, woher sie kommt. Auf dem Weg zum Platz oder zur Toilette muss man die Maske aufsetzen, am Tisch sitzt man eine Stunde oder länger und darf sie abnehmen. Das kann man mit gesundem Menschenverstand nicht erklären. Solche Sachen müsste man einfach mal entrümpeln. Die AHA-Regel ist zwar schön, aber sie passt einfach nicht mehr. Abstand ist in Ordnung, Handhygiene kann man machen, bringt aber nichts, Alltagsmasken wurden ja sinnvollerweise durch medizinische Masken ersetzt. Also bleibt letztlich nur ein A übrig von dieser Regel, nämlich der Abstand. Stattdessen sollte man mal die Schutzmaßnahmen nennen, die wirklich wichtig sind, und das ist insbesondere das Lüften und das Tragen von medizinischen Masken in Innenräumen, speziell bei hohen Inzidenzen.
Gerade in Restaurants wird viel desinfiziert, dazu stehen oft Plexiglasscheiben als Trennwand zwischen den Tischen. Was bringt das?
Scheuch: Zu den Plexiglasscheiben gibt es eine Studie aus den USA, die gezeigt hat, dass diese Scheiben sogar kontraproduktiv waren, denn sie haben wahrscheinlich das effektive Lüften verhindert. Mit vielen Plexiglasscheiben schafft man Bereiche, die schlecht belüftet werden können und in denen sich das Aerosol länger hält. Ich bin da mittlerweile sehr skeptisch, was den Nutzen dieser Scheiben angeht.
Was muss man denn beachten, um die Ansteckungsgefahr in den Innenräumen zu senken?
Scheuch: Das hat die Gesellschaft für Aerosolforschung schon in einem Positionspapier beschrieben. Es gibt sechs Punkte, die man beachten sollte. Erstens: Sich mit möglichst wenig Leuten treffen. Je mehr Menschen in einem Raum sind, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken. Zweitens: Den Faktor Zeit berücksichtigen. Die doppelte Zeit in einem unbelüfteten Raum bedeutet fast vierfaches Ansteckungsrisiko. Treffen sollten so kurz wie möglich ausfallen. Drittens: Man braucht große Räume, viel Volumen um einen herum. In einer Kirche ist es ungefährlich, auch in Kinos oder in einem Theatersaal ist es wenig riskant. Viertens: Richtig und häufig lüften. Fünftens: Auch Raumluftfilter einsetzen, gerade da, wo Menschen lange zusammensitzen. Sechstens: Masken benutzen. Man hat also sechs Werkzeuge zur Verfügung, um sich in Innenräumen zu schützen und sollte diese am besten kombinieren. Dann kann man die Situation relativ sicher gestalten.
Glauben Sie, dass sich durch eine Anpassung der Hygienemaßnahmen die Infektionsrate senken ließe?
Scheuch: Ja natürlich. Das ist meiner Ansicht nach auch der Grund, warum sie allmählich wieder runtergeht. Die Menschen passen sich an, treffen sich nicht mehr so häufig in Innenräumen, sagen Feiern ab. All das führt dazu, dass die Inzidenzen fallen. Das Verhalten der Menschen, das zeigt auch eine amerikanische Studie, ist – neben dem Impfen natürlich – das Wichtigste bei dem ganzen Infektionsgeschehen. Also der Umstand, ob sie sich vorsichtig verhalten oder sich nicht mehr so häufig in Innenräumen begegnen.
Auf der anderen Seite ist eine gewisse Müdigkeit festzustellen, was die Einhaltung von Hygieneregeln angeht.
Scheuch: Deshalb muss man den Menschen wenige und vernünftige Werkzeuge an die Hand geben und nicht immer wieder neue Maßnahmen beschließen. Impfen ist natürlich unverzichtbar. Aber alles, was im Freien stattfinden kann, sollte man nicht verbieten. Man sollte die Menschen sogar motivieren rauszugehen. Draußen lauert fast keine Gefahr, nur in den Innenräumen.