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Kommentar zum Krieg in der Ukraine: Mehr Lula wagen

Kommentar zum Krieg in der Ukraine : Mehr Lula wagen

Brasiliens Präsident hat sich vor wenigen Tagen als Vermittler im Ukraine-Krieg angeboten. Dafür schlägt ihm in Deutschland viel Kritik entgegen. Warum? Sollten wir nicht nach jedem Strohhalm greifen, um das Morden zu beenden?

Lieber 100 Stunden umsonst verhandeln, als eine Minute schießen. Dieser weise Satz stammt von Helmut Schmidt. Der verstorbene Ex-Kanzler war Realpolitiker und in Sicherheitsfragen ein harter Hund. Würde der Sozialdemokrat ihn heute wiederholen, sähe er sich schnell ins Abseits gedrängt – im günstigeren Fall als traumtänzelndes Weichei, im schlimmeren als fünfte Kolonne Russlands. Das Wort „Verhandlungen“ ist im politischen Diskurs inzwischen diskreditiert. Zumindest öffentlich wird nur noch geschossen.

Zu spüren war das wieder einmal in der ablaufenden Woche. Nachdem der brasilianische Präsident Lula da Silva sich bei einem Besuch von Kanzler Olaf Scholz als Vermittler im Ukraine-Krieg angeboten hatte, setzte in großen Teilen der deutschen Politik und in den meisten Medien das übliche Lamento ein: Dem eben noch im Westen gefeierten südamerikanischen Hoffnungsträger wurde unterstellt, er höre zu viel Radio Moskau, verbreite Kreml-Propaganda, mache sich mit seinem Vorschlag zu Wladimir Putins Büttel. Es wurde geholzt und diffamiert.

Dass Brasilien möglicherweise tatsächlich in der Lage wäre, gemeinsam mit anderen neutralen Staaten wie China und Indien eine nicht von vornherein zum Scheitern verurteilte diplomatische Initiative zu starten, weil das Land zwar den russischen Angriffskrieg verurteilt, aber keine Waffen an die Ukraine liefert, stand kaum zur Debatte. Stattdessen wurde darüber diskutiert, ob Kiew neben westlichen Kampfpanzern nun auch mit Kampfflugzeugen beliefert werden soll.

Die rein militärische Logik wird inzwischen von vielen weitgehend unreflektiert akzeptiert. Entstanden ist der Eindruck, als sei eine lange, immer mörderischere Abnutzungsschlacht in der Ukraine unter den gegebenen Bedingungen alternativlos. Doch in der Politik gibt es immer eine zweite Option. Wer apodiktisch verkündet, es sei derzeit nichts zu verhandeln, kapituliert vor der Gewalt und macht es sich intellektuell zu einfach.

Warum beschäftigt sich öffentlich kaum jemand damit, welche Erfahrungen sich für den aktuellen Krieg aus Gesprächen ziehen lassen, mit denen andere Konflikte zumindest beruhigt wurden? Warum wird nicht stärker danach gefragt, wie über kleinere Verhandlungen der Einstieg in eine Waffenstillstandssuche gelingen kann?

Erste Anknüpfungspunkte gibt es mit dem Getreideabkommen und den Vereinbarungen zum Austausch von Kriegsgefangenen doch bereits. Sollte es sogar stimmen, dass während der vergangenen Wochen ein Emissär von US-Präsident Joe Biden in Moskau und Kiew vorgefühlt hat, unter welchen Bedingungen beide Seiten die Waffen ruhen lassen würden, dann wäre das ein Weg, auf dem weiter gegangen werden muss. Auch, wenn er äußerst steil und steinig ist. Auch, wenn auf ihm zunächst kaum ein Fortkommen möglich zu sein scheint.

Nach Einschätzung vieler Experten wird am Ende des Krieges eine Verhandlungslösung stehen. Natürlich muss sie garantieren, dass die Ukraine ein souveräner Staat bleibt. Natürlich darf Putin für seinen Eroberungskrieg nicht belohnt werden. Möglicherweise stehen am Ende eines Prozesses ähnliche Vereinbarungen, wie sie offenbar im vergangenen Frühjahr bereits verhandelt waren – nämlich eine neutrale Ukraine in den Grenzen von Januar 2022 mit westlichen Sicherheitsgarantien.

Das ist sicherlich keine Ideallösung und würde von Kiew schmerzliche Zugeständnisse verlangen. Aber was wäre die Alternative? Ist ein Siegfrieden für die Ukraine inklusive einer Rückeroberung der Krim tatsächlich realistisch? Und wenn ja, zu welchem Preis?

Mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, steigt nicht nur die heute schon entsetzlich hohe Zahl seiner Opfer. Es wächst auch das Risiko einer weiteren Eskalation. Selbst einer atomaren. Natürlich benutzt Putin seine Nuklearwaffen, um den Westen einzuschüchtern. Aber sich darauf zu verlassen, dass er es nur bei Drohungen belässt, wäre fahrlässig.

Zwar steht die Welt noch nicht unmittelbar vor einem Armageddon. Aber wir im Grenzland sollten uns bewusst sein: Die Gefahr einer gigantischen nuklearen Katastrophe durch Putins Atomwaffen ist heute um ein Vielfaches höher, als sie es durch den belgischen Pannenreaktor Tihange 2 je war. Das ist kein beruhigender Gedanke. Warum also nicht etwas mehr Lula wagen und nüchtern die Chancen ausloten, die dessen Initiative eröffnen könnten?