Kommentar zu Anne Spiegel : Gleiches (Rücktritts-)recht für alle
Meinung Aachen Die persönliche Erklärung von Ministerin Anne Spiegel (Grüne) war zwar berührend, kommt aber neun Monate zu spät.
Die Debatte um die Ministerinnen Ursula Heinen-Esser (CDU) und Anne Spiegel (Grüne) ist keine über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Diese Debatte sollte man grundsätzlich führen, auch bei Ministern und Ministerinnen.
Wer politische Beteiligung attraktiv für viele Bevölkerungsgruppen machen will, muss sich Gedanken darüber machen, wie die berühmte Work-Life-Balance auch in politischen Ämtern und mit Mandaten besser austariert werden kann. Das beginnt bei Ortsverbandssitzungen, die nicht immer zur gleichen Zubettbringzeit stattfinden sollten, und endet bei Bundesministerinnen und -ministern, die trotz hoher Belastung so etwas wie ein Familienleben haben sollten. Darüber nachzudenken und darüber zu streiten, ist gut.
Die Flutkatastrophe in NRW und Rheinland-Pfalz ist allerdings der falsche Anlass für eine solche Debatte. Die war eine Ausnahmesituation, in der politische Verantwortungsträger aus eben dieser Verantwortung heraus ein Pflichtgefühl entwickeln müssten, das ihnen gebietet, vor Ort bei den Menschen zu sein. Ein Pflichtgefühl, das übrigens die unzähligen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die Tage, Wochen, Monate vor Ort waren, ohne jegliches politisches Mandat aufgebracht haben. Auch vor diesem Hintergrund sind Urlaube von verantwortlichen Ministerinnen unmittelbar nach der Katastrophe nur sehr schwer nachzuvollziehen.
Im Vergleich zwischen Heinen-Esser und Spiegel mag es bei manchen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen, weil die eine die Geburtstagsparty ihres Mannes besuchte, während die andere in einer Phase der familiären Überlastung dem Politikstress entfliehen musste. Die Erklärung von Spiegel, die einen tiefen und glaubwürdigen Einblick in ihr Seelen- und Familienleben gegeben hat, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie anders hätte reagieren müssen.
Es ist unbestritten, dass manche Dinge wichtiger sind als der Beruf oder das politische Amt. Wenn die eigene Familie zu zerbrechen droht, der Partner schwer erkrankt ist, dann muss alles andere zurückstehen. Wer zu dieser Erkenntnis kommt, muss aber entsprechend handeln.
Der Respekt wäre ihr sicher gewesen, wenn Spiegel zehn Tage nach der Flut in einer ähnlich emotionalen Presseerklärung ihre familiäre Situation erläutert und gesagt hätte: „Mir ist bewusst, dass viele Familien in Rheinland-Pfalz gerade Schreckliches erlebt haben, ich bin aber in einer privaten Situation, die es mir derzeit unmöglich macht, meine ganze Kraft als Ministerin einzusetzen, weswegen ich von meinem Amt zurücktreten muss.“ Vielleicht gehört zur politischen Verantwortung auch, zu erkennen, wann man ihr nicht mehr gerecht werden kann.
Stattdessen der Versuch, beides unter einen Hut zu bringen, inklusive eines vierwöchigen Urlaubs und Kabinetts-Videokonferenzen, an denen sie zunächst teilgenommen haben will, was sie schließlich dementieren muss. Dazu noch die inzwischen öffentlich gemachte Kommunikation nach der Flut, in der die große Sorge der Ministerin eher dem eigenen Image als den von der Flut betroffenen Menschen gegolten zu haben scheint.
Wer also zur Erkenntnis kommt, dass Ministerin Heinen-Esser zurücktreten musste, sollte schon sehr genau erklären können, warum Ministerin Spiegel das nicht tun sollte. Auf diese Erklärung darf man gespannt sein.