Arbeiterwohlfahrt Herzogenrath : Wenn Menschen alleine sterben
Herzogenrath Was wird aus einer Begegnungsstätte, wenn keine Menschen mehr kommen dürfen? In Herzogenrath bedeutet das Haus für die Arbeiterwohlfahrt vor allem eins: Sehr viel Arbeit und viele Sorgen.
Dass der anhaltende Lockdown gravierende Auswirkungen für die AWO-Begegnungsstätte an der Ruifer Straße 28 in Herzogenrath-Mitte und ihre Nutzer haben könnte, haben viele sicher nicht gleich auf dem Schirm, die an der vermeintlich gut gepflegten Alt-Immobilie auf dem Weg ins Broichbachtal vorbeischlendern.
Mitgliederzahlen nehmen ab
Manfred Grouls, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt in Herzogenrath-Mitte, sieht diese Auswirkungen sehr wohl – und mit ihm die geschätzt 140 bis 150 Mitglieder, die dem Ortsverein nach jüngsten Schätzungen geblieben sind. Es waren in besseren Zeiten mal mehr als 300. Die dadurch sinkenden Einnahmen in Form von geringeren Mitgliedsbeiträgen bereiten Grouls jedoch derzeit weniger Kopfzerbrechen als die mit der weitgehenden Schließung der Begegnungsstätte verbundenen menschlichen Schicksale. Soziales Elend und einsames Sterben nicht ausgeschlossen.
„Das Einzige, was ich in jüngster Zeit von vielen unserer Senioren beziehungsweise deren Kinder erfahre ist, dass sie irgendwann – möglicherweise einsam und allein – gestorben sind. Die Situation ist in vielerlei Hinsicht problematisch“, stellt Grouls fest, der darauf hinweist, dass die noch lebenden, zum Teil sehr betagten Mitglieder ja nicht besucht werden dürfen. Manfred Grouls macht sich deswegen ständig Sorgen. Er befürchtet, dass weitere Senioren einsam und verlassen sterben. Er spricht gar von einem „Einsamkeits-Tsunami“, den Corona ausgelöst habe und „der noch rollt“.
Klönen, Kaffetrinken, Spielen
Darüber hinaus war die Begegnungsstätte vor der Pandemie aus Grouls‘ Sicht für Dutzende ältere Menschen in Herzogenrath-Mitte „ein Fels in der Brandung“, ein Ort, an dem man auf andere Menschen traf – zum gemeinsamen Klönen, Spielen oder Kaffeetrinken samt Stück Kuchen.
In puncto Nahrungsaufnahme war das Haus an der Ruifer Straße 28 ohnehin für viele Senioren im Umfeld deutlich mehr. „Abgesehen vom täglichen Frühstückskaffee haben wir vor der Schließung einmal in der Woche einen Mittagstisch angeboten. Das war für viele – vorwiegend Frauen, denn Armut in Deutschland ist weiblich – die einzige warme Mahlzeit in der Woche“, weiß Manfred Grouls nur zu gut.
Frikadellen- und Schnitzelgerichte, gelegentlich Eintöpfe und regelmäßig der Klassiker Currywurst mit Pommes – eben typische Hausmannskost – zählten zu den Rennern der Herzogenrather AWO-Küche, die nicht nur auf solche Bedürfnisse bestens eingestellt ist. Da die betroffenen Senioren vorerst nicht mehr in die Begegnungsstätte können, andererseits ein Abhol- oder Bringdienst mit den bescheidenen personellen Ressourcen nicht umgesetzt werden kann, dürfte in manchem Heim Hunger die Folge sein, vermutet Grouls.
Finanzielle Sorgen
Bei einer Führung durch das einstige, noch in Teilen erhaltene Schulgebäude, als das es gelegentlich weiter genutzt wird, zeigt er weitere Folgen der anhaltenden Schließung des Gebäudes. Früher würden die Räumlichkeiten für Vereins-, Vorstands- und Fraktionssitzungen, Versammlungen und Feste aller Art vermietet. Insbesondere der entfallende letzte Posten reißt mittlerweile ein größeres Loch in die Kasse der Begegnungsstätte.
Ob die einstigen Nutzer alle wiederkommen, ist für den AWO-Vorsitzenden mehr als fraglich. „Zuletzt plädierten immer mehr für Online-Versammlungen“, sieht Manfred Grouls eher einen Trend, der künftig gegen solche Präsenzveranstaltungen spricht. Doch da sind ja auch noch die Feiern. Nicht zuletzt an Silvester war stets „Full House“ an der Ruifer Straße 28. Da wurde manchmal auf mehreren Ebenen friedlich gefeiert, betont er. In der Begegnungsstätte kamen zum Beispiel regelmäßig polnische oder kasachische Landsleute zum Feiern zusammen, berichtet Grouls von vielen weiteren internationalen Begegnungen.
Viele Mieter sind Stammmieter, die selbst in der Pandemie zum Teil weiter mit Grouls in Kontakt bleiben. „Wenn die Auflagen morgen vorbei wären, wäre hier wieder ruckzuck für längere Zeit vermietet“, kennt er seine „Kundschaft“ und deren Feierpläne über das Jahr hinweg ziemlich gut. In vielerlei Hinsicht. Ob religiöse Feste, Hochzeitsrituale unterschiedlichster Kulturkreise, russische Vorlieben für Wodka, scharfes Essen oder Musik vom Balkan – das Gebäude der AWO in Herzogenrath-Mitte setzt quer durch das Jahr kunterbunte Akzente. Jedenfalls wenn nicht eine Pandemie wie diese das Feiern zwischen Kellergeschoss, da befindet sich ein großer Partyraum mit Theke, DJ-Equipment samt Mischpult, Boxen und vielen Discolichtern, in Parterre oder in der ersten Etage, unterbindet. Sogar draußen ist feiertechnisch vieles möglich: „Für die Außenbestuhlung haben wir alles auf dem Speicher gelagert, sogar riesige Marktschirme“, seufzt Grouls beim Blick auf die anstehenden Sommermonate. Bei den Festen achtet Manfred Grouls stets darauf, dass die Nachbarschaft über das Jahr hinweg nicht überstrapaziert wird. „Bislang hat das alles immer gut geklappt, und außerdem besteht die Möglichkeit einfach mitzufeiern“, sagt Grouls.
Die einstigen Klassenräume der früheren katholischen Grundschule Herzogenrath-Mitte können zu Schulungs- und Unterrichtszwecken genutzt werden. In diesem Bereich herrschte pandemiebedingt ebenfalls lange Funkstille. Wenn die Zahlen es zulassen, soll es aber wegen des großen Bedarfs zeitnah wieder Integrationskurse geben.
Darüber hinaus will die Arbeiterwohlfahrt selbst die Weiterbildung ihrer Pflegekräfte schnellstmöglich wieder im Haus fortsetzen. Die Ausstattung des Gebäudes lässt dies recht komfortabel zu. Ob aber irgendwann erneut Gitarren- und Zumba-Kurse oder das beliebte Seniorenturnen im Haus angeboten werden können, ist für Manfred Grouls mit vielen Fragezeichen verbunden. Für den schulischen Zweig der Begegnungsstätte ist jedenfalls so oder so vorgesorgt: Von Stühlen, Tischen, Tafel bis hin zu modernen Präsentationsmöglichkeiten können Schüler und Lehrer sich gleichermaßen über die moderne Schulausstattung freuen. Die seit über 15 Jahren im Haus stattfindenden Integrations- und Deutschkurse bietet die örtliche VHS an. Für die (kleine) Miete kommt hier die Stadt Herzogenrath auf, die prinzipiell auch Eigentümerin des verbliebenen Teils der früheren katholischen Grundschule Herzogenrath-Mitte ist.
Der wurde der Herzogenrather AWO vor Jahrzehnten für einen Zeitraum von 99 Jahren für einen symbolischen Betrag von einer Mark überlassen, was mit einigen Pflichten in Sachen Unterhalt verbunden war. Womit wir wieder beim leidigen Kostenthema sind, das Manfred Grouls nach wie vor zu schaffen macht, zumal der Sanierungs- und Modernisierungsdruck bei so einem älteren Bau ja nicht nachlässt. Bezahlt werden müssen jedoch auch Strom- und Heizkosten, Versicherungen, Gema, GEZ und vieles mehr. Zwar hat die AWO in der Vergangenheit Fördergelder vom Land nutzen können (Stichwort Konjunkturpaket II) und so etwa vor rund zehn Jahren die energetische Sanierung vorantreiben können, doch irgendwas ist immer. Fällig sind demnächst die Fenster. Ein Posten, der bereits im städtischen Haushalt vermerkt ist.
Aktuell helfen Arbeitssuchende, Haus und Außenareal in Schuss zu halten. Für den AWO-Chef bleibt die Bewirtschaftung der Begegnungsstätte eine Herkulesaufgabe, die nicht auf ewig im Pandemiemodus zu stemmen sei. „Wenn wir nicht gut gewirtschaftet und einiges gespart hätten, wäre schon Schluss“, gibt er offen zu und hofft auf bessere Zeiten – und das in erster Linie für die notleidenden Senioren, deren Schicksal Manfred Grouls weiterhin am meisten ans Herz geht. Damit verbunden sei jedoch auch das Schicksal der Sozialvereine in der Stadt. „In diesem Bereich werden wir wohl nach der Pandemie eine ganz andere, ausgedünnte Vereinslandschaft vorfinden“, fürchtet er nicht nur für die Arbeiterwohlfahrt in Herzogenrath selbst.