Zeitreise durch eine Kinderklinik : „Et Krüppelheim“ richtig ins Herz geschlossen
Interview Baesweiler Die Baesweilerin Beatrix Wolters arbeitet in der LVR-Klinik für Orthopädie in Viersen. Spannend ist ihr Blick auf die Gründerjahre ab 1921, zu sehen in einem Film am 30. März.
Achtung! Der Titel von Buch und Film klingt sperrig, birgt aber Stoff für anrührendes Erzählkino: „100 Jahre ‚Et Krüppelheim‘. Eine Zeitreise durch die bewegte Geschichte der LVR-Klinik für Orthopädie Viersen“. Die Baesweiler Autorin Beatrix Wolters (61) macht im Gespräch mit Stephan Tribbels deutlich, welche dokumentarischen Schätze und – durchweg positive – Zeitzeugen-Aussagen das Werk beinhaltet, das sie am 30. März um 18.30 Uhr im Rittersaal der Burg Baesweiler vorstellt.
Frau Wolters, der Begriff Krüppel wird heute nachvollziehbarerweise kaum noch verwendet – in Ihrem Buch ist „Krüppelheim“ aber eine eindeutig liebevoll gemeinte Reminiszenz, oder?
Beatrix Wolters: Ja, und offiziell wurde die Kinderklinik in Süchteln, heute Stadtteil von Viersen, nicht zuletzt aufgrund von Eltern geäußerten Bedenken nicht wirklich lange so genannt – durch die Bevölkerung vor Ort allerdings noch Jahrzehnte. Die Gründung basiert auf dem vom Provinzialverband der Rheinlande am 6. Mai 1920 in Kraft getretenen Gesetz über die öffentliche Krüppelvorsorge. Im Anschluss begab man sich auf die Suche nach einem passenden Klinikgelände und wurde in Süchteln auch wegen der guten Luft fündig. Hier stand damals eine Abteilung für epileptische Kinder der dortigen Provinzial Heil- und Pflegeanstalt Johannistal aus Rentabilitätsgründen vor der Schließung. Daraus resultierte die Eröffnung der Provinzial Krüppelanstalt Süchteln am 5. August 1921 – allerdings unter sehr provisorischen Rahmenbedingungen.
Woran fehlte es beispielsweise?
Wolters: Die neue Klinik hatte anfangs noch keinen eigenen OP-Saal, nicht mal eine Möglichkeit zu röntgen. So mussten die Kinder gegebenenfalls gut 400 Meter weit in die Heil- und Pflegeanstalt Johannistal getragen werden. Rollstühle bzw. fahrbare Betten gab es nämlich zunächst nicht. Von dieser Zeit gibt es Fotos. Es mangelte in fast allen Bereichen.
Worauf war die Kinderklinik in der Folge spezialisiert?
Wolters: Vor allem auf die zum Teil sehr langwierige Behandlung von verschiedenen Tuberkulosearten, Rachitis und Kinderlähmung, für die es bei der Gründung noch keine Medikamente gab. Antibiotika kannte man noch nicht. So bestand die Therapie weitgehend aus Licht, Luft und guter Ernährung – manchmal über Jahre hinweg. Prägend waren hier sicher die später eindrucksvollen Bettenreihen in Liegehallen oder an der frischen Luft. Langwierige Heilungsprozesse bedeuteten auch, dass für Unterricht gesorgt werden musste. Für Kinder im Gipskorsett am Bett, für die, die gehen konnten in speziellen Schulräumen. Das geschah nach Möglichkeit in enger Absprache mit den Schulen im Heimatort der jungen Patienten. Deren Familien durften lange Zeit nur einmal im Monat sonntags zu Besuch kommen. In wirtschaftlich sehr prekären Jahren oder je nach der familiären Situation ging es wohl etlichen Kindern in der Klinik besser als in der Heimat, die in ganz Deutschland liegen konnte.
Die langen Aufenthalte sorgten Ihren Recherchen nach für ein besonderes Beziehungsgeflecht zwischen Klinikpersonal und den jungen Patienten…
Wolters: Es war vielfach so, dass die Krankenschwestern mit der Zeit quasi die Rolle von Müttern und mancher Arzt die eines Vater einnahmen. Alles in positivem Sinne. Negativäußerungen habe ich jedenfalls von keinem der zum Teil sehr betagten Zeitzeugen, die mal in Süchteln Patienten waren, vernommen. Viele haben die Zeit in der Klinik demnach regelrecht genossen, Freundschaften mit damaligen Zimmergenossen später bis ins hohe Alter beibehalten. Seitens der Klinik wurde allerdings auch viel unternommen, um den jungen Patienten den langen Aufenthalt mit Amüsement-Einlagen angenehm zu gestalten. Dafür sprechen etwa groß aufgezogene Sommerfeste mit Karussell, Schiffschaukel und Zirkusaufführungen. Es gibt sogar Patienten, die nach ihrer Behandlung geblieben sind – beruflich in der Klinik Fuß fassten.
Die jungen Patienten kamen außerdem selbst „auf Ideen“, um sich die Zeit angenehmer zu gestalten…
Wolters: Die wussten ja damals nicht, wie krank sie eigentlich waren und spielten mit Stützschienen und -korsett Fußball und anderes. Im Winter wurde sogar auf einem in der Nähe befindlichen Hang gerodelt.
Das spricht auch alles für eine besondere Art der Klinikleitung?
Wolters: Der langjährige Klinikleiter Dr. Ludwig Roeren, später Professor, wollte für diese oft lang behandelten Kinder keinen klassischen Klinikbetrieb und hat hier mit den Jahren Besonderes bewegt. Professor Roeren hat viel dazu beigetragen, dass in Süchteln später einer der größten und renommiertesten orthopädischen Kinderkliniken in Deutschland stand. Gute Kontakte zu politischen Entscheidern in der Provinzialregierung, wie etwa zu Landeshauptmann Dr. Johannes Horion, haben nötige bauliche Erweiterungen und die Anschaffung neuester medizinischer Errungenschaften nach dem zunächst schweren Anfang in den Folgejahren positiv beeinflusst.
Besondere Patienten bedurften in der NS-Zeit dann sicher auch eines besonderen Schutzes?
Wolters: Die Kinder wurden auch aktiv geschützt. Ein Beispiel dafür ist die dokumentierte Geschichte des siebenjährigen Patienten Hans-Arno, dessen Mutter Jüdin war. Als im Februar 1944 eine Überprüfung anstand, ist Ordensschwester Agnes Marie mit ihm und seiner Patientenakte im Wald verschwunden, bis die Überprüfung vorbei war.
War das 100-jährige Bestehen vor zwei Jahren Anlass für Ihre Dokumentation?
Wolters: Eigentlich schon das 90-jährige Bestehen im Jahr 2011. Doch mein Interesse für die Geschichte des Hauses wurde noch früher geweckt. 1982 habe ich dort meine Ausbildung zur Krankenschwester begonnen. Als Schülerin kriegt man immer viele Geschichten erzählt. Auch über diese ganzen Balkone. Die damals langjährigen Mitarbeiter waren mit all dem noch so verbunden – das hat mich gleich fasziniert. Vor 15 Jahren hatte mir dann die stellvertretende Pflegedienstleitung wegen meines anhaltenden Interesses Einblicke in die Ordenschronik ermöglicht, also der in Süchteln tätigen Heiligenstädter Schulschwestern.
Engagement, Improvisationsgeschick und Herzblut dieser Ordensschwestern spielen in Ihrem Buch eine große Rolle. Sorgte denn diese Chronik für die Initialzündung?
Wolters: Die Ordenschronik, Fotoalben, Todesanzeigen – ich habe das ab 1921 von den Schwestern sehr gut geführte Material gleich komplett eingepackt. Später kam noch der Hinweis eines Kollegen, der eine Videokassette mit Filmmaterial aus der Klinikzeit von 1930 bis 1949 hatte. Zwar schon x-mal kopiert und nicht von bester Qualität, aber immerhin. Und mit Aufnahmen von Dr. Ludwig Roeren, der die Einrichtung Jahrzehnte lang prägte. Das hat mich so beeindruckt. Ich habe mir die Filmschnipsel unzählige Male angeguckt. Zudem fand ich während den Recherchen im Duisburger Landesarchiv einen lange verschollenen Film mit sehr interessanten Aufnahmen aus dem frühen Klinikbetrieb. Dann rückte das 90-Jährige näher, und ich dachte mir ‚probierste mal, machste mal‘. (lacht)
Diese Feierlichkeiten 2011 lieferten Ihnen dann weiteren Stoff für die Dokumentation?
Wolters: Da kamen auch ehemalige Patienten hin. Die Bude war gerammelt voll, und ich hatte eigentlich nur zwei Filme mit Musik unterlegt. Es war nämlich auch noch ein Imagefilm aus Anfang der 1960er Jahre aufgetaucht. Der war so cool. Es gab großes Interesse – auch an einem Geschichtsrundgang mit großen Plakaten im Festsaal. Für mich war das eine total interessante Erfahrung. Da habe ich angefangen, noch ein bisschen mehr zu sammeln.
Was anlässlich des 100. Geburtstags der Einrichtung zum Buch und dem am Ende gut 100-minütigen Film führte?
Wolters: Kurz am Rande: Bevor ich 2019 mit dem Klinikvorstand über das anstehende Jubiläum sprach, hatten sich schon im Jahr davor weitere Zeitzeugen bei mir gemeldet. Zunächst hatte ich jedenfalls nur einen 15-minütigen Zusammenschnitt und eine Broschüre geplant. Mittlerweile bin ich ja in der Klinik für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Der Vorschlag wurde angenommen. Dann kam Corona. Schon aus praktischen Gründen dachte ich mir ‚fängste mal mit dem Film an‘. Da kommen dann die Zeitzeugen ins Spiel, die unbedingt ihre eigenen Geschichten über die Zeit in der Klinik erzählen wollten. Die waren bei mir an der richtigen Stelle. Ich hatte vorher noch nie so richtig gefilmt, dann die Zeitzeugen der Reihe nach vor meine Spiegelreflexkamera gesetzt, auf die richtige Beleuchtung geachtet. Jedenfalls könnte ich das Gesagte alles in den Film einbauen, dachte ich so bei mir.
So durfte es am Ende ein bisschen mehr sein…
Wolters: Ja, auf einmal war so viel Material da (lacht wieder). Ich hatte zwar privat schon mal Filme geschnitten, aber nicht so etwas Großes. Alle Beteiligten waren auch mit einer Veröffentlichung einverstanden. Da kriegte ich noch ein paar Ideen. Während der Pandemie habe ich dann hier in Baesweiler gesessen, Filmteile rausgesucht, den Film geschnitten, überlegt was ich noch machen könnte und Texte geschrieben, auch weil ich ein absolutes Spielkind bin (lacht erneut). Die Ideen sprudelten weiter, bis hin zu Plots für Stimmen der Kollegen. Am Ende habe ich dann noch das Buch geschrieben.