Das große Hochwasser im Juli : So hat Tief Bernd die Flutkatastrophe verursacht
Region Schon früher gab es extreme Wetterlagen in unserer Region. Doch warum löst das Tiefdruckgebiet Bernd im Juli 2021 eine solche Katastrophe aus? Die Erklärung ist kompliziert. Ein Versuch.
Andreas Holz aus Hürtgenwald-Vossenack kennt das Wetter in der Eifel. So dachte er bis Mitte Juli, dass er schon alles erlebt hat, was man als Eifler in Sachen Wetter erleben kann. Und dann kam Bernd, das Tiefdruckgebiet, das die Juli-Hochwasserkatastrophe verursacht hat. Bernds Ausmaße hätte er bis dahin auf einer Skala von eins bis zehn als „unmöglich“ eingestuft. „So was habe ich bis dahin nie erlebt. Und ich hatte auch nie damit gerechnet, so was irgendwann einmal zu erleben.“ Holz ist nicht allein mit dieser Einschätzung. Kein Wetterexperte aus der Region hatte sich vor Bernd vorstellen können, dass passieren könnte, was passiert ist.
Für Andreas Holz, der im Forschungszentrum Jülich als Chemie-Ingenieur arbeitet und als große Leidenschaft seit dem Jahr 2005 die Seite www.huertgenwaldwetter.de betreibt, ist dieses eine Tiefdruckgebiet bis heute genauso schockierend wie faszinierend. Im Nachhinein gibt es Gründe dafür, wie die Katastrophe an der Ahr passieren konnte, oder wie aus kleinen Flüssen wie der Vicht, der Inde oder der Erft zerstörerische, reißende Ströme werden konnten, die Existenzgrundlagen vernichtet und Menschenleben gekostet haben. Es sind viele Faktoren, die zeitgleich aufgetreten sind und sich potenziert haben.
Es gibt nüchterne Zahlen, die Rückschlüsse erlauben, warum das Tief Bernd eine derartige Zerstörungskraft entfaltete. Keine ist so aussagekräftig wie die 760 Kubikmeter Wasser pro Sekunde, die in der Spitze am 14. Juli in das Talsperrensystem des Wasserverbands Eifel Rur (WVER) eingelaufen sind. „Sowas haben wir vorher im Ansatz noch nicht erlebt“, sagt Gerd Demny, Dezernent Gewässer beim WVER.
Das Talsperrensystem, das aus dem Urftsee sowie dem Ober- und Untersee des Rursees besteht, hatte am Wochenende des 10. und 11. Juli noch Stauraum satt. Rund 40 Millionen Kubikmeter vom damaligen Füllstand bis zum kontrollierten Überlauf an der dafür vorgesehenen Entlastungsanlage. Normalerweise dauert es im Winter Wochen, bis so viel Wasser in den See geflossen ist.
„Dass der Staudamm überlaufen könnte, hätten wir noch am Wochenende vorher niemals gedacht. Und das, obwohl wir wussten, dass in den kommenden Tagen ganz schön was runterkommen sollte“, erinnert sich Demny. Bernd hat diesen Stauraum innerhalb von zwei Tagen erschöpft. Kurzzeitig mit den erwähnten 760 Kubikmetern, über zu viele Stunden mit 300 Kubikmetern pro Sekunde und mehr.
300 Kubikmeter Wasser pro Sekunde – das kannten die Mitarbeiter des WVER bisher als kurzfristigen Spitzenwert, wenn sich ergiebiger Spätwinter-Regen mit der Schneeschmelze in der Eifel zusammentut. Ende Februar 2019 war das vor dem Juli-Tiefdruckgebiet letztmals so. Im Spätwinter ist der Füllstand des Sees normalerweise höher als im Sommer. Der Betriebsplan der Rurtalsperre, der von der Bezirksregierung Köln genehmigt werden muss, sieht genau das so vor. Denn aus dem Rursee wird die Rur gespeist, die bis zu ihrer Mündung in die Maas bei Roermond viele Industrieunternehmen und Landwirte mit Wasser versorgt. Der Obersee ist zudem das Trinkwasserreservoir für 600.000 Menschen, unter anderem in der Städteregion Aachen und im Kreis Heinsberg.
Deswegen darf das System in einem trockenen Sommer nicht trockenfallen. In den Dürrejahren 2018, 2019 und 2020 war das besonders wichtig. Deswegen regelt der Betriebsplan, dass die Talsperre am Ende der niederschlagsreichen Zeit relativ voll ist. 180 bis 190 Millionen Kubikmeter Wasser hält sie dann. Bei 202 ist der Stauraum aufgebraucht. Deswegen ist das Risiko in diesen Tagen am Ende eines Winters am höchsten, dass der Staudamm seine Kapazitätsgrenze erreicht. Mitte Juli galt bisher nicht als Risikozeit. Denn da ist schon viel Wasser die Rur runtergeflossen. 160 Millionen Kubikmeter befanden sich im System, als Bernd einsetzte.
Das Tiefdruckgebiet: „Am Samstag, 10. Juli, habe ich in meinen Vorhersagen geschrieben, dass was Großes im Anmarsch ist“, blickt Wetterexperte Andreas Holz auf die ersten belastbaren Prognosen zurück. Bernd, das Tiefdruckgebiet, steckte fest zwischen einem Hochdruckgebiet im Osten und einem im Westen. Je wärmer ein Hochdruckgebiet ist, desto mehr Wasserdampf kann es aufnehmen.
Schiebt sich das Hochdruckgebiet dann über das Tiefdruckgebiet, weil letzteres nicht ausweichen kann, dann kondensiert das Wasser – es regnet. So seien laut Holz sogenannte Randtiefdruckgebiete entstanden. Eines davon beispielsweise am Mittwochnachmittag, 14. Juli, zwischen Bremen und Osnabrück. Das Gebiet verlagerte sich von Norden nach Süden und war am Abend über der Eifel angekommen.
Dieses Randtief war nicht das einzige, das das eingeklemmte Tiefdruckgebiet verursacht hat. Am Dienstagabend fielen im Raum Stolberg, Zweifall und Roetgen 30 Millimeter pro Stunde. Am Mittwoch waren die Niederschläge noch intensiver. „Viel Regen in kurzer Zeit, das ist hier nicht unbekannt“, berichtet Holz. 2005 seien über Nideggen-Schmidt innerhalb weniger Stunden 85 Millimeter heruntergekommen. Auf der anderen Seite des Kalltals in Hürtgenwald-Vossenack, nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt, sei es fast trocken geblieben. „Die Bernd-Niederschläge waren aber kein einmaliges, lokales Starkregen-Ereignis. Im Zeitraum von 36 bis 48 Stunden sind sie immer und immer wieder passiert, und zwar auf einer größeren Fläche“, beschreibt Holz den Unterschied zu allem, was bisher in der Eifel bekannt war.
Die Eifel als Staugebiet: Die Topografie der Eifel war ein nächster wichtiger Faktor. Auf dem Weg der besagten Randtiefs von Norden aus Richtung Nordsee gen Süden waren die Eifelhöhen die ersten Hindernisse, an denen sie hängengeblieben sind. Vor allem galt das für das Ahrgebirge, aber auch für das Hohe Venn. Andreas Holz spricht in solchen Fällen von Staugebieten, die auf der Wetterkarte betrachtet ausgesehen haben wie Fettaugen in einer Suppe. Und aus denen hatte es immer weiter geregnet. Allein am 13. und 14. Juli kamen im Bereich des Hohen Venns bei Raeren und Roetgen rund 200 Millimeter Wasser pro Quadratmeter runter. Zum Vergleich: Im Venn regnet es über das ganze Jahr zwischen 1200 und 1400 Millimeter, im Bereich Hürtgenwald etwa 900 bis 1000 und in der Jülich-Zülpicher Börde etwa 600 bis 700. Das Gros davon fällt im Winter. Das Quellgebiet von Vicht und Inde: im Hohen Venn.
Die unterschiedlichen Böden: Das nächste Problem ist der Boden, der in unserer Region unterschiedlicher nicht sein könnte: In besagter Jülich-Zülpicher Börde gibt es den sogenannten Lössboden, quasi feines Gesteinsmehl, das erdzeitgeschichtlich gerade eben erst, in den jüngsten 120.000 Jahren, mit dem Wind in die Börde getragen worden ist. Dieser rheinische Lössboden speichert viel Wasser, die Börde gilt deswegen als eine der fruchtbarsten Landstriche Europas.
Im Gegensatz zur Eifel, die entstanden ist, weil zwei Super-Kontinentalplatten vor 400 Millionen Jahren aufeinander getroffen sind und der Boden des Meeres sich nach oben geschoben hat. Schiefer und anderes grobes Gestein lagen damals auf dem Meeresgrund, jetzt liegen sie auf den Bergen und können bei weitem nicht so viel Wasser aufnehmen wie der Super-Speicher Löss. In der Eifel fließt also mehr Wasser ab, weil weniger gespeichert wird. Das klingt jetzt banal, ist aber trotzdem wichtig: Die Börde ist flach und die Eifel bergig, was naturgemäß dazu führt, dass das Wasser schneller abfließt. „200 Millimeter Wasser innerhalb von nicht mal zwei Tagen – das kann die Eifel einfach nicht“, beschreibt Holz.
Vor allem dann nicht, wenn der Boden längst gesättigt ist nach einer überdurchschnittlich nassen ersten Jahreshälfte. In der Region hatte es bereits mehrere Starkregenereignisse gegeben. In Herzogenrath beispielsweise war eine Bahntrasse unterspült worden.
Kurz zusammengefasst: Ein ungewöhnlich stark geladenes Tiefdruckgebiet, das aufgrund einer seltenen Wetterkonstellation kaum vom Fleck kommt, bleibt an den Eifelhöhen hängen, regnet sich deswegen anormal lange ab über einem Gebiet, das viele abschüssige Flächen hat, mit Böden, die weniger Wasser speichern können und ohnehin schon stark gesättigt sind – so lauten die verhängnisvollen Faktoren, die in Summe die Hochwasserkatastrophe ergeben haben.
Schutzfunktion der Rurtalsperre: Die mehrfach erwähnte Rurtalsperre ist nach Aussage des WVER der Grund, warum die größten Wassermassen, die während Bernd über der Region abgeregnet sind, kaum eine Rolle gespielt haben. „Von den insgesamt 41 Millionen Kubikmetern Wasser, die Mitte Juli in das Talsperrensystem geflossen sind, sind 0,9 Millionen über die Entlastungsanlage an die Rur abgegeben worden“, erklärt Gerd Demny. Die Entlastungsanlage ist der zusätzliche Ablass wenige Meter unterhalb der Straße, die über die Staumauer verläuft. Vom 15. Juli um 23.30 Uhr bis zum 18. Juli um 17 Uhr floss nach WVER-Angaben Wasser durch die Anlage, maximal zehn Kubikmeter pro Sekunde. 60 Kubikmeter darf der Wasserverband über den regulären Ablass an die Rur abgeben, mit Sondergenehmigung 80. Das machte im Juli in Summe 90 Kubikmeter in der Spitze.
„Wenn ich dann auf die mehr als 700 Kubikmeter schaue, die in der Spitze pro Sekunde in das System eingeflossen sind, dann hat der Staudamm die Wassermenge teilweise fast um den Faktor acht reduziert“, sagt Demny. Oder anders ausgedrückt: Ohne die Talsperre hätten sich in der Spitze bis zu 760 Kubikmeter in die Rur ergossen, plus die fast 100, die am Höhepunkt der Flut aus der Kall kamen, plus mehr als 100 aus der Inde, die kurz vor Jülich in die Rur mündet. In Jülich wären dann 900 Kubikmeter angekommen. Das wäre die Hälfte des Wassers, das der Rhein bei Köln im Sommer führt. Die Innenstadt wäre bis zur Erhebung Merscher Höhe komplett geflutet worden.
Jülichs Glück im Unglück: Seit dem 15. Juli kennt die Stadt Jülich das Höchstmaß an Wasser, das das Rurbett fassen kann. Es liegt in etwa bei 200 Kubikmetern pro Sekunde. Die sind im Juli nie deutlich übertroffen worden. Es war wohl auch Glück im Spiel, dass Inde und Kall wieder auf die Hälfte abgeschwollen waren, als der Wasserverband die Abgabe aus der Talsperre erhören musste. Über Tage ergab das die Summe 200. Zuerst, am 14. Juli, mit rund 90 aus der Kall und 90 aus der Inde und dem Rest aus dem Rursee. Dann, ab dem 16. Juli – je nach Fließgeschwindigkeit braucht das Wasser von der Rurtalsperre bis Jülich sechs bis acht Stunden – mit 90 aus dem Rursee, 60 aus der Inde und 50 aus der Kall.
Unbestritten war es das Jülicher Glück, dass die Inde hinter Inden einen Damm überwunden hat, mit dem sie von ihrem ursprünglichen Verlauf in das neue Bett gezwungen werden soll. Das Wasser hat das alte Bett freigespült und ist in den Tagebau Inden eingedrungen, mit einer tragischen Folge: Ein Mensch hat in der Schlammlawine sein Leben verloren.
„Wir müssen noch berechnen, wie viel Wasser in den Tagebau gelaufen ist“, erklärt Demny. Und: „Wir werden drüber nachdenken müssen, ob der spätere Indesee eine Option für mögliche Wetterextreme in Zukunft sein kann.“ Vorstellbar sei, dass der Tagebau ein riesiges Regenrückhaltebecken werden kann, wenn er nach dem Ende des Braunkohleabbaus zum See wird.
Inde und Vicht sind nicht reguliert: Eschweiler und vor allem dem am schlimmsten getroffenen Stolberg und seinen Stadtteilen hilft das alles nichts. Im Gegensatz zur Rur sind die Vicht und die Inde nicht mit einer Staumauer reguliert. Der Regen, der in ihren Quellgebieten und im Bereich der Zuflüsse fällt, fließt irgendwann durch die Städte. Am 15. Juli versagt die Messstelle der Inde in Eschweiler, mutmaßlich, weil sie überflutet worden ist. Den letzten Wert, den sie übertragen hat, waren 160 Kubikmeter pro Sekunde. Einige Stunden später liefert die Messstelle wieder Werte, angefangen bei 160, Tendenz ab dann fallend. Zeichnet man die Kurve nach dem Abriss zu Ende, dann ergibt sich ein Scheitelpunkt bei mehr als 200 Kubikmetern pro Sekunde. Zum Vergleich: Der Ruhepuls der Inde liegt zwischen drei und fünf Kubikmetern.
„Das Indebett ist relativ leistungsfähig“, beschreibt Demny die Datenlage beim WVER. 100 Kubikmeter pro Sekunde könne es noch fassen, ohne dass es zu größeren Überflutungen komme. Das wäre der Zustand in einem sogenannten 100-jährigen Hochwasserereignis (HQ 100). Bernd lag deutlich über einem HQ 1000. Für Stolberg, in dem die ersten Hochwasserprobleme bei einem HQ 20 anfangen, war das Tiefdruckgebiet umso verheerender. Die Vicht ergießt sich normalerweise mit einem knappen Kubikmeter pro Sekunde kurz vor der Eschweiler Stadtgrenze in die Inde. Wenn sie, wie die Kall, um das Hundertfache anschwillt, hat das die Folgen, die auf den Bildern aus dem Juli zu sehen sind.
Stolbergs fatale Tallage: „Das Tal, durch das die Vicht läuft, ist sehr eng und hat ein vergleichsweise großes Gefälle“, sagt Demny. „Da ist ein Effekt entstanden wie im Ahrtal.“ Viel zu viel Wasser, viel zu wenig Platz. Im Gegensatz zur Kall. Die hat mit ihrem Hochwasser wenige Meter vor der Mündung in die Rur in Zerkall zwar den historischen Maschinenpark der Traditions-Papierfabrik Renker zerstört und im Ausflugsort Simonskall Schäden verursacht. Aber die Kall läuft durch keine Stadt, stattdessen durch ein deutlich breiteres Tal, in dem sie viel Weidefläche überflutet hat. Entlang der Vicht führte der einzige Weg für die Wassermassen durch die Existenzen der Menschen.