Sehen, Erinnern, Ermahnen : Was hinter den Kreuzen am Straßenrand steckt
Kreis Heinsberg Rund 30 weiße Kreuze erinnern an den Straßen im Kreis Heinsberg an tödliche Verkehrsunfälle. Vor gut zehn Jahren begann die ungewöhnliche Aktion. Wer steckt eigentlich dahinter? Und was sagen die Hinterbliebenen dazu?
Der Verkehr rauscht über die Bundesstraße 56 von Heinsberg nach Geilenkirchen. Autos, Sattelschlepper, Transporter, einer nach dem anderen legt sich in die sanfte Rechtskurve auf dem Weg in Richtung Süden. Jeder Wagen passiert ein schlichtes weißes Kreuz, das am Straßenrand steht, leicht nach links geneigt neben dem Straßengraben. Es trägt keine Aufschrift.
Das schlanke Holzkreuz erinnert an einen tödlichen Unfall, der sich an dieser Stelle ereignet hat. Es ist eines von rund 30 im Kreis Heinsberg. Im Jahr 2011 wurden die ersten aufgestellt. Die Kreispolizeibehörde machte die Aktion bekannt und begleitet sie seitdem. Der Anstoß kam aber von jemand anderem: René Stegemann, Kraftfahrzeug-Sachverständiger aus Gangelt.
„Ich war 2010 einmal Ersthelfer bei einem tödlichen Unfall“, erzählt er. Ein dramatisches Erlebnis, das ihn nicht los ließ. Als er dann in der Nähe von Hannover metergroße Holzkreuze an einer Straße sah, verknüpfte sich beides zu der Idee, auch im Kreis Heinsberg symbolische Gedenkkreuze an Unfallorten aufzustellen. Für jeden sichtbar, ob auf dem Motorrad, im Auto oder im Lastwagen. Ein Betroffenmacher am Straßenrand. Ein Anblick, der durchs Auge geht und im Hirn hängenbleibt. Der zu Vorsicht und Aufmerksamkeit ermahnt. Und daran erinnert, dass auch Hunderte Kilo Stahlblech, Airbags und Seitenaufprallschutz nicht unverwundbar und unfehlbar machen.
„Ich habe mich dann ans Verkehrskommissariat der Polizei gewandt“, sagt Stegemann. „Da rannte ich sozusagen offene Türen ein.“ Die Polizei unterstützte das Vorhaben – das ist auch nötig, denn einfach mal eben irgendwelche Kreuze in die Landschaft pflanzen darf natürlich niemand. Die Behörde übernahm die Federführung. Und Landrat Stephan Pusch die Schirmherrschaft. Seitdem wächst die Zahl der Kreuze Jahr für Jahr.
Vor jeder Aufstellung steht viel Arbeit. Mehrere Wochen nach einem Unfall mit tödlichem Ausgang besucht eine Vertreterin oder ein Vertreter der Polizei die Angehörigen des Unfallopfers. Mit viel Einfühlungsvermögen wird geklärt, ob die Hinterbliebenen mit der Aufstellung eines Mahnkreuzes einverstanden sind.
„Ich habe aber noch nie erlebt, dass die Familie das nicht wollte“, sagt Stegemann. Im Gegenteil, viele Hinterbliebene hätten den ausdrücklichen Wunsch, dass anderen das Leid und der Verlust erspart bleiben sollte. Vor allem, wenn es ein junger Mensch war, dessen Leben abrupt zu Ende ging. „Am Unfalltod eines jungen Menschen hängen im Schnitt 100 andere Schicksale“, weiß der Gangelter. Familie, Freunde, Mitschüler, -studenten oder -auszubildende.
Geklärt werden muss auch, ob und wo ein Kreuz überhaupt aufgestellt werden kann. Das wird mit dem sogenannten Straßenbaulastträger geklärt, sprich: der für den Unterhalt der jeweiligen Straße zuständigen Stadt oder Gemeinde, dem Kreis, Land oder Bund. Ein Mindestabstand von 1,50 Metern zum Straßenrand muss auch vorhanden sein.
Das Kreuz fertigt ein Bekannter von René Stegemann an: aus Holz, weiß lackiert. Er macht das ehrenamtlich. Zuletzt fährt Stegemann zum vereinbarten Ort und stellt es auf. Manchmal gibt es einen Pressetermin mit Polizeibeamten und Pressevertretern. Von da an kontrolliert der Streckendienst der zuständigen Straßenbaubehörde den Zustand. Und das Kreuz tut, was es soll: sichtbar sein.
Wer an der B56 weiter fährt, sieht ein Stück weiter noch ein zweites Kreuz. Es ist kleiner, weniger auffällig, davor liegt eine Engelsfigur aus Stein. An dieser Stelle ist der eigentliche Unfall geschehen. Noch ein Stück dahinter ist an einer Einmündung einer Nebenstraße noch ein zweites Gedenkkreuz aufgestellt. Blumengestecke, Grablichter und zwei Motorradhelme liegen dabei. Es erinnert an den Unfalltod eines jungen Motorradfahrers im vergangenen Jahr.
Solche von Hinterbliebenen aufgestellten Gedenkkreuze und Mahnmale existieren in einer rechtlichen Grauzone. Formell erlaubt sind diese oft mit Blumen, Fotos und Kerzen versehenen kleinen Gedenkstätten nicht. Polizei und Straßenbaubehörden tolerieren sie aber stillschweigend, solange sie den Verkehr nicht beeinträchtigen.
Auch wenn auf Landstraßen weniger schnell gefahren wird als auf Autobahnen: Die Gefahr lauert buchstäblich in jeder Kurve. Zwar änderte sich im vergangenen Jahr im Kreis die Zahl der Verkehrsunfälle mit 6920 gegenüber dem Vorjahr kaum. Doch die Zahl der verletzten und getöteten Verkehrsteilnehmer stieg um gut 16 Prozent auf 1045 Verunglückte.
Unfälle durch Aufklärung und Vorbeugung zu verhindern, wird darum bei der Kreispolizeibehörde groß geschrieben. Das fängt bei Fußgängertraining im Kindergarten an, geht weiter mit Kursen für Rollerfahrer und Inline-Skater in der Schule und endet bei Seminaren für Ältere im Straßenverkehr.
René Stegemann hat nur Lob für die Arbeit der Beamten, sowohl bei der Prävention als auch bei der Betreuung von Unfallopfern. „Denn das ist ein ganz, ganz sensibles Thema.“ Er erinnert sich an einen Fall, da sei ein Opferbetreuer direkt von der Kommunionsfeier seiner Tochter zu den Hinterbliebenen eines Unfalltoten gefahren, freiwillig natürlich, weil es sich um einen sehr schweren, anspruchsvollen Fall handelte. „Die machen das mit unglaublich viel Engagement.“
Die weißen Kreuze will Stegemann auch weiterhin aufstellen. Nach einer Pause im Corona-Jahr 2021 sind aus dem vergangenen Jahr 2022 noch zwei Mahnmale zu errichten. „Ich werde nicht die Welt retten können“, sagt er. „Aber das Schicksal ein bisschen eindämmen, das kann ich vielleicht.“