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Persönlicher Rückblick, Teil 2: Zwischen Zuversicht und Ernüchterung

Persönlicher Rückblick, Teil 2 : Zwischen Zuversicht und Ernüchterung

Zum Jahresende blicken wir ganz persönlich auf das verheerende Hochwasser in Eschweiler und Stolberg zurück. Im zweiten von drei Teilen gibt es Hoffnungsschimmer, aber auch Rückschläge.

Was hat die Flut mit den Menschen in Eschweiler und Stolberg gemacht? Dieser Frage gehen wir seit dem 14. Juli beinahe täglich nach und berichten darüber. „Was hat die Flut mit Ihnen als Journalisten gemacht?“ Diese Frage ist uns in den vergangenen fünfeinhalb Monaten häufig gestellt worden. Heute, zum Jahresende, möchten wir eine Antwort darauf geben. Chronologisch, aber nicht als vollständige Chronik. Offen und emotional, aber dabei trotzdem diskret und zurückhaltend. Denn im Gegensatz zu den vielen Frauen, Männern und Kindern in den beiden Städten, die von der unfassbaren Wucht dieser Hochwasserkatastrophe getroffen wurden, waren und sind wir in erster Linie Beobachter und Berichterstatter. Teil 2.

17. Juli, Caroline Niehus: Strahlender Sonnenschein, blauer Himmel – darunter stapeln sich Berge von Sperrmüll und kaputten Erinnerungsstücken. Die Stimmung am Samstag in Vicht ist unwirklich. Es ist, als würde das Wetter über die gebrochenen Menschen spotten, die wenige Tage zuvor nach dem Dauerregen alles verloren haben und jetzt ihr Hab und Gut aus ihren Häusern befördern. Ich mache mich nach einem Gespräch mit einem Bewohner auf, um Zeitungen im Ort zu verteilen, damit die Betroffenen ohne Strom und Internet wenigstens an die wichtigsten Informationen kommen. Eine gut gemeinte Geste, und trotzdem komme ich mir mit meinem Angebot so überflüssig vor. „Was bringt den Menschen eine Zeitung, wenn sie sonst nichts mehr haben?“, geht mir bei jeder der Begegnungen durch den Kopf.

18. Juli, Caroline Niehus: Wie Elmar Wagenbach mich am Sonntagmorgen am Eschweiler Krankenhaus empfängt, imponiert mir. „Panik ist nie ein guter Begleiter. Wenn man Hektik verbreitet, hilft das ja auch nicht“, sagt der Geschäftsführer des St.-Antonius-Hospitals. Die Katastrophe ist passiert, jetzt muss aufgeräumt werden – mit dieser Einstellung wird er in den weiteren Wochen und Monaten dafür sorgen, dass sein Krankenhaus schnell wieder den Betrieb aufnehmen kann. Und sie ist auch ein Stück weit Motivation, meinen Plan durchzuziehen, nach getaner Arbeit an diesem Tag noch in den betroffenen Gebieten zu helfen. Zwischendurch hatte ich darüber nachgedacht, mir nach viereinhalb Tagen durchgehender Arbeit eine Pause zuzugestehen. Doch Aussagen wie die von Wagenbach machen mir klar: Die Betroffenen können auch keine Pause machen.

18. Juli, Sonja Essers: Das Wochenende vergeht wie im Flug. Im Rückblick betrachtet, erscheinen die Ereignisse so unwirklich. Unendlich viele Menschen sind in diesen Tagen auf den Beinen. Keller, Wohnungen, Geschäftslokale werden ausgeräumt. Verschlammte Erinnerungen liegen auf den Straßen und werden teilweise von Müll bedeckt. Wer nicht anpacken kann, sucht andere Wege zu helfen. Ein älterer Mann verteilt selbstgebackenen Kuchen. „Sie müssen sich stärken“, sagt er den Helfern. Diese Solidarität wird vielen Betroffenen wohl noch lange im Gedächtnis bleiben.

22. Juli, Michael Grobusch: Ich habe David Schlenter angerufen und gefragt, ob er Zeit für mich hätte. „Sie können gerne vorbeikommen“, lautet die Antwort des Geschäftsführers von Kerpen Datacom. Am Eingang nimmt er mich in Empfang und geht mit mir über das Gelände seines Unternehmens, das er erst zwei Wochen zuvor übernommen hat. Ich bin zutiefst beeindruckt von dieser Begegnung. Da steht der Mann in Gummistiefeln und verdreckter Kleidung inmitten einer Trümmerwüste. Auf 40 Millionen Euro wird der Schaden geschätzt. Und er verbreitet tatsächlich Zuversicht. Herr Schlenter, ich verneige mich ganz tief vor Ihnen!

Inmitten von Zerstörung und Trümmern: David Schlenter hatte das ehemalige Werk von Leoni-Kerpen erst vor zwei Wochen übernommen, als die Flut kam.
Inmitten von Zerstörung und Trümmern: David Schlenter hatte das ehemalige Werk von Leoni-Kerpen erst vor zwei Wochen übernommen, als die Flut kam. Foto: MHA/Michael Grobusch

22. Juli: Michael Grobusch: Der nächste Gänsehautmoment lässt nicht lange auf sich warten. Als stiller Beobachter erlebe ich, wie die Stadt Stolberg eine erste Soforthilfe an Hochwasseropfer auszahlt – in bar und unter Umständen, die wie die Flut selbst bis dato undenkbar gewesen waren. Rund 600.000 Euro gehen buchstäblich über den Tisch. Mehr als 1000 Menschen sind allein zur Frankentalstraße gekommen und warten in der brütenden Hitze geduldig und zum Teil über Stunden auf die Auszahlung des Geldes. Ich mache mir Gedanken, wie ich auf sie zugehen kann, ohne pietätlos zu wirken. Viele von ihnen sprechen mich an, erzählen ganz offen von ihrem Schicksal. Und davon, dass sie alles verloren haben. Ich fühle mich hilflos. Und ich habe Tränen in den Augen. Die ganze Zeit.

23. Juli, Caroline Niehus: Für einen Moment muss Andrea Ervens das Gespräch unterbrechen – eine Frau kommt zu ihr, um ihr am Rande des Kinderbetreuungsangebots am Vichter Sportplatz einen Umschlag zu geben. „Es ist nicht viel, nur 20 Euro. Das ist alles, was wir noch haben. Und das wollten wir für die Kinder spenden“, sagt die Frau schon fast entschuldigend. Eine Geste und vor allem Worte, die nicht nur Organisatorin Ervens die Tränen in die Augen treiben, sondern auch mich tief treffen. Wie selbstlos können Menschen sein?

Mutige Lebensretter und Menschen, die gegen die Verzweiflung ankämpfen

28. Juli, Michael Grobusch: Wasserkraft nennt man die in Wasser enthaltene Energie. Soweit die Definition. Was das in der Praxis bedeuten kann, offenbart sich in der Schwimmhalle. Gemeinsam mit Nadine Leonhardt nehme ich an der Erstbegehung teil. Auch die Eschweiler Bürgermeisterin kämpft spürbar mit den Eindrücken dieser kaum fassbaren Zerstörung. Die Fluten der Inde sind hier nicht durchgerauscht, sondern allmählich gestiegen. Trotzdem haben sie die tonnenschwere Lüftungsanlage aus der Verankerung gerissen und das große Schwimmerbecken aus Stahl zerdrückt. Wegen der Wasserkraft.

5. August, Caroline Niehus: Frühestens Ende August nennt Straßen NRW als möglichen Termin für die Wiedereröffnung des Europatunnels. Beim Rundgang durch den stockfinsteren Tunnel fällt mir auf, dass es dort immer noch verwüstet aussieht – obwohl er nicht wie die zahlreichen Wohn- und Geschäftshäuser entrümpelt werden muss. Letztlich dauert es bis Mitte Dezember, ehe die ersten Autos wieder in den provisorisch instand gesetzten Tunnel dürfen. Für mich bei der ersten Durchfahrt ein versöhnliches Gefühl, weil endlich auch in Stolberg etwas Großes repariert werden konnte.

6. August, Sonja Essers: Seit dem 14. Juli habe ich unzählige Gespräche geführt – vor allem mit Betroffenen. Not lehrt beten, heißt es im Volksmund. Stimmt das wirklich? „Wenn etwas Schreckliches passiert, ist die Frage nach der Schuld ein Stück weit eine Verarbeitungsstrategie“, erklärt mir Pfarrer Christoph Graaff aus Eschweiler. Er ist der Meinung, dass man Gott auch Vorwürfe machen darf und meint: „Ich habe das Gefühl, dass eine Trauerglocke über Eschweiler hängt. Die wird sich und muss sich irgendwann lüften. Wir müssen trotz der Katastrophe Zuversicht fassen.“ Vor allem der letzte Satz bewegt mich dazu, in den kommenden Monaten positiver zu denken.

11. August, Caroline Niehus und Michael Grobusch: Es ist ein Déjà-Vu der ganz unangenehmen Art: Wieder beginnt der Tag mit einer Whatsapp-Nachricht, diesmal ohne Fotos. Doch die Botschaft ist nicht minder verstörend: In einem Haus an der Ecke Grabenstraße/Englerthstraße ist ein Boden in Teilen eingestürzt und eine Mieterin unter dramatischen Umständen gerettet worden. Gerade erst war in Eschweiler ein Hauch von Aufbruchstimmung zu spüren gewesen, jetzt sind die Menschen wieder in Alarmbereitschaft. Und wir auch. Ist die Flut die Ursache für den schlimmen Vorfall? Und ist zu befürchten, dass Ähnliches auch in anderen Häusern passieren kann? Wir versuchen das herauszufinden. Doch eine offizielle und damit hoffentlich verlässliche Antwort gibt es bis zum heutigen Tage nicht.

 Der Teileinsturz einer Bodenkonstruktion in dem Haus an der Ecke Englerthstraße/Grabenstraße in der Eschweiler Innenstadt sorgt für Entsetzen.
Der Teileinsturz einer Bodenkonstruktion in dem Haus an der Ecke Englerthstraße/Grabenstraße in der Eschweiler Innenstadt sorgt für Entsetzen. Foto: Medienhaus Aachen/Michael Grobusch

18. August, Michael Grobusch: Die Realschule Patternhof ist vom Hochwasser massiv beschädigt worden. Die fast 1000 Schülerinnen und Schüler haben in Würselen eine vorübergehende Bleibe gefunden und ziehen ein. Wehmut herrscht nicht an diesem Morgen, stattdessen ausgeprägte Freude darüber, dass die Solidarität nicht an den Grenzen der Stadt endet. Schulleiterin Michaela Silbernagel spricht von einem Glücksfall und davon, dass es ein Privileg sei, als Schulgemeinschaft zusammenbleiben zu können. In diesem Augenblick sind die Auswirkungen der Katastrophe ausgeblendet. Das tut allen Beteiligten spürbar gut. Auch dem Berichterstatter.

26. August, Caroline Niehus: Nach der Besichtigung des schwer getroffenen Samaritanerheims unmittelbar an der Vicht fragt Einrichtungsleiter Dirk Renerken mich, wie es uns eigentlich geht und wie die Redaktion die Ereignisse verarbeiten würde. Dieses ehrliche Interesse und vor allem die Empathie beeindrucken mich. Schließlich ist er der unmittelbar Betroffene und musste sich in den vergangenen Wochen um zahlreiche Menschen kümmern. Aus Begegnungen wie diesen schöpft man Kraft, sie tun der Seele gut.