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Leben in der Notunterkunft: „Unsere Heimat ist zerstört, und unser Zuhause gibt es nicht mehr“

Leben in der Notunterkunft : „Unsere Heimat ist zerstört, und unser Zuhause gibt es nicht mehr“

Maryna und Iryna sind aus der Ukraine geflohen und leben in der Turnhalle des Berufskollegs Am Obersteinfeld, die die Städte Eschweiler und Stolberg gemeinsam betreiben. Ein Besuch in der Notunterkunft.

Maryna schaut auf das Smartphone in ihrer Hand. Die junge Frau mit den langen dunklen Haaren hat ein Bild aufgerufen, das ihre Heimatstadt Mariupol in der Ukraine zeigt. Darauf zu sehen sind eine Menge Holzkreuze. „Es gibt viele Gräber in unserer Stadt“, sagt die 22-Jährige auf Englisch und schiebt mit leiser Stimme hinterher: „Das ist so schrecklich.“ Seit Ende Oktober lebt Maryna in Stolberg. „Im Camp“, wie sie selbst sagt. Damit meint die junge Frau die Notunterkunft in der Turnhalle des Berufskollegs an der Straße Am Obersteinfeld.

Seit dem 11. April 2022 betreiben die Städte Eschweiler und Stolberg dort eine gemeinsame Unterkunft für Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Momentan sind dort 36 Personen untergebracht – unter anderem aus der Ukraine, aber auch aus Afghanistan und Syrien.

Iryna (links) und Maryna (rechts) leben in der Notunterkunft, die die Städte Eschweiler und Stolberg in der Turnhalle des Berufskollegs gemeinsam betreiben.
Iryna (links) und Maryna (rechts) leben in der Notunterkunft, die die Städte Eschweiler und Stolberg in der Turnhalle des Berufskollegs gemeinsam betreiben. Foto: privat

Zu den Bewohnern gehören Maryna und Iryna. An diesem Morgen sitzen die beiden Frauen an einem der Tische im Aufenthaltsraum. In diesem wird gegessen, Kaffee getrunken oder miteinander geredet – über das Leben in der alten und in der neuen Heimat. An einer Wand sind einige gemalte Bilder zu sehen. Darunter ein Herz, das in den Farben der ukrainischen Flagge ausgemalt ist – Blau und Gelb.

„Ich mag das Camp“, sagt Maryna, und ein Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Dort lebt sie gemeinsam mit ihrem Freund. Was ihr an der Unterkunft besonders gefällt? „Die Menschen hier. Wir sind wie eine Familie.“ Ihre eigene Familie lebe nach wie vor in der Ukraine. „Das ist sehr schwer für mich“, berichtet die junge Frau.

Rund 440.000 Einwohner zählte Mariupol einst. Dort befindet sich unter anderem auch das Eisen- und Stahlwerk Asowstal, das während der Bombardierungen durch die Russen rund 2600 Soldaten und Zivilisten beherbergte und so auch mediale Aufmerksamkeit erlangte. „Unsere Heimat ist zerstört, und unser Zuhause gibt es nicht mehr“, sagt Maryna und fügt hinzu: „Wenn ich jetzt zurückgehen würde, gäbe es keinen Platz, an dem ich leben könnte.“

In den Monaten seit dem Ausbruch des Kriegs Ende Februar 2022 seien etliche Menschen in ihrer Heimatstadt gestorben. Während der Belagerung von Mariupol starben nach ukrainischen Angaben mindestens 20.000 Zivilisten. Ende August 2022 wurde die Zahl der in den Leichenhäusern Mariupols dokumentierten Toten vom Sender „Mariupol TV“ mit 87.000 angegeben. Seit Ende Mai 2022 wird die Stadt von Russland kontrolliert, dessen Teil es werden soll. Das gefällt den Frauen nicht. „Wenn wir zurückgehen, werden wir fremd im eigenen Land sein“, befürchtet Maryna.

Viel zu tun gibt es nicht

Auch Iryna hat einst in Mariupol, das in der Ukraine eine bedeutende Hafen- und Universitätsstadt sowie ein Wirtschaftszentrum war, gelebt. Mit ihrer kleinen Tochter ist sie Anfang November 2022 in Stolberg angekommen. Seitdem lebt sie in der Notunterkunft, die vom Deutschen Roten Kreuz (DRK) betrieben wird. „Hier ist es gut“, ist die 32-Jährige überzeugt.

Und wie sehen ihre Tage momentan aus? Viel zu tun gebe es nicht. Derzeit warten Maryna und Iryna auf einen Platz in einem Deutschkurs. „Wir möchten wirklich gerne Deutsch lernen“, sagen sie. Gleichwohl wissen die beiden, dass dies keine einfache Sprache ist. „Das merke ich bei meiner Tochter“, berichtet Iryna.

Regelmäßig bringe sie ihrer Mutter neue Wörter bei. „Und sie möchte immer, dass ich sie Vokabeln abfrage. Sie sagt mir oft, dass sie lernen muss, weil das wichtig ist für ihre Zukunft.“ Zusätzlich zum Unterricht in Stolberg steht auch Online-Unterricht mit Lehrern aus der Ukraine an. „Zweimal Unterricht am Tag ist aber manchmal sehr viel“, sagt Iryna.

Stolberg gefällt den beiden Frauen sehr gut. Sie haben in den vergangenen Wochen jedoch auch den einen oder anderen Unterschied zu ihrer Heimat ausgemacht. „Es ist eine nette Stadt, aber klein. Mariupol ist eine große Stadt“, sagt Iryna und Maryna fügt hinzu: „Und Stolberg ist sehr leise.“

Wie lange die Frauen noch in der Notunterkunft bleiben werden, steht derzeit noch nicht fest. „Wir warten auf eine Wohnung“, blickt Maryna erwartungsvoll in die Zukunft. Doch der Begriff Zukunft ist für die Ukrainerinnen nicht nur positiv besetzt. „Wir schauen von Tag zu Tag“, sagt Iryna und denkt bei diesem Satz an ihr Leben in der Heimat zurück. „Dort hatten wir eine Arbeit, Freunde und ein Zuhause. Jetzt wissen wir nicht, wie es weitergeht. Wird der Krieg enden? Und wann wird das sein?“, sagt Iryna, die in der Ukraine als Steuerprüferin gearbeitet hat. Maryna hat einen Universitätsabschluss und war in ihrer Heimat als Tutorin tätig. Nun bringt sie den Kindern in der Unterkunft ein wenig Englisch bei, berichtet sie.

Arbeiten würden die beiden Frauen auch in ihrer neuen Heimat gerne. Das sei momentan jedoch – ohne einen entsprechenden Sprachkurs – nicht möglich. Ob sie dauerhaft in Deutschland bleiben werden? Diese Frage können sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantworten. „Vielleicht bleiben wir ja hier“, sagt Iryna und wirkt bei diesen Worten plötzlich traurig. Das habe nichts damit zu tun, dass sie nicht gerne in Deutschland sei. Doch die Gedanken an ihre Heimat bedrücken sie.

Zumindest für einen kurzen Moment. Dann hat sich Iryna wieder gesammelt. Die Traurigkeit aus ihren Augen verschwindet. Ein Lächeln macht sich auf ihrem Gesicht breit. „Hier ist jeder Tag anders. Wir machen das Beste daraus.“