Persönlicher Rückblick, Teil 1 : Eine unfassbar große Herausforderung
Special Eschweiler/Stolberg Zum Jahresende blicken wir ganz persönlich auf das verheerende Hochwasser in Eschweiler und Stolberg zurück. Im ersten von drei Teilen geht es um die akute Phase von den ersten Alarmierungen über das Eintreten der Katastrophe bis zum Beginn des kollektiven Aufräumens.
Was hat die Flut mit den Menschen in Eschweiler und Stolberg gemacht? Dieser Frage gehen wir seit dem 14. Juli beinahe täglich nach und berichten darüber. „Was hat die Flut mit Ihnen als Journalisten gemacht?“ Diese Frage ist uns in den vergangenen fünfeinhalb Monaten häufig gestellt worden. Heute, zum Jahresende, möchten wir eine Antwort darauf geben. Chronologisch, aber nicht als vollständige Chronik. Offen und emotional, aber dabei trotzdem diskret und zurückhaltend. Denn im Gegensatz zu den vielen Frauen, Männern und Kindern in den beiden Städten, die von der unfassbaren Wucht dieser Hochwasserkatastrophe getroffen wurden, waren und sind wir in erster Linie Beobachter und Berichterstatter. Teil 1.
14. Juli, Sonja Essers und Michael Grobusch: Es regnet und regnet und regnet. Und doch deutet nichts auf das hin, was in den nächsten Stunden und vor allem in der kommenden Nacht passieren wird. In der Vergangenheit war Stolberg immer zuerst betroffen, wenn es Hochwasser gab. Deshalb machen wir uns am frühen Nachmittag von Eschweiler auf den Weg in die Nachbarstadt. Dort jagt der Vichtbach mit gewaltiger Wucht durch das enge Tal. Am Offermann-Platz schwappt das Wasser zuerst über, später läuft es durch den Steinweg und die Rathausstraße in Richtung Mühle. Das hat es seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Dennoch denkt wohl niemand zu diesem Zeitpunkt an eine Katastrophe. Auch wir nicht.
14. Juli, Caroline Niehus: Einen ersten Eindruck davon, dass die Situation außergewöhnlich ist, bekomme ich am späten Mittag an der Stoltenhoffbrücke in Eschweiler. Dort hat sich das Wasser bereits extrem ausgedehnt – Spazierwege sind überspült, Feuerwehrleute kämpfen sich in Anglerhosen durchs Wasser, um ein Haus zu evakuieren. Und dabei ist diese Situation verglichen zum späteren Zustand noch harmlos. Solche Szenarien kommen mir allerdings noch gar nicht in den Sinn.
14. Juli, Caroline Niehus, Michael Grobusch und Sonja Essers: Die Situation spitzt sich spürbar zu. In Stolberg gibt es den Aufruf zur Evakuierung, in Eschweiler dringt das Wasser in die Grabenstraße ein. Für uns als Berichterstatter ist die Lage zunehmend unübersichtlich und deshalb schwer einzuschätzen. Wir hören von Stromausfällen, Kurzschlüssen, wir sehen immer mehr Einsatzkräfte, die zunächst noch versuchen die Brücken zu sichern und diese dann sukzessive aufgeben. Dennoch erreicht uns um kurz vor 22 Uhr eine vermeintlich gute Nachricht: Der Pegel der Inde werde bald sinken, heißt es aus Reihen des Krisenstabes. Wir beschließen, den Dienst für diesen Tag zu beenden – mit der Erwartung, dass es in der Nacht eine deutliche Entspannung geben wird.
14./15. Juli, Sonja Essers: Für mich geht die eigentliche Arbeit jetzt erst los. Mein Freund und ich wohnen an der Kochsgasse – nur wenige Meter von der Inde entfernt. Die Pumpen in unserem Keller laufen auf Hochtouren. Wir gehören zu den wenigen Menschen in der Innenstadt, die noch Strom haben. Eigentlich sind alle Hausbewohner guter Dinge, dass wir glimpflich davonkommen. In den kommenden Stunden werden wir eines Besseren belehrt. Die gesamte Nachbarschaft ist auf den Beinen. Doch gegen 1 Uhr drängt das Wasser alle in die Häuser zurück. An eine ruhige Nacht ist nicht zu denken. Gegen 3.30 Uhr wird es laut im Treppenhaus. Die Nachbarn aus dem Erdgeschoss packen das Wichtigste zusammen und bringen es im Treppenhaus in Sicherheit. Die Backsteinmauer im Garten droht aufgrund der Wassermassen einzustürzen. Dann würde das Erdgeschoss geflutet. Alle Hausbewohner packen an. Um kurz nach halb sechs schaue ich aus dem Fenster. So etwas habe ich noch nicht gesehen! Das Wasser ist überall! Wann werden wir hier wohl rauskommen? Ich spreche mit meiner Mutter, die nur eine Straße weiter ebenfalls festsitzt. „Ich habe Angst“, sagt sie. Ich auch! Kann ich überhaupt arbeiten, ohne Strom und ohne zu wissen, wie lange wir hier noch festsitzen werden? Ich muss meine Kollegen informieren.
15. Juli, Caroline Niehus und Michael Grobusch: Eine Whatsapp-Nachricht kommt an diesem Morgen dem Wecker zuvor: Unsere Kollegin Sonja hat Fotos von der Eschweiler Innenstadt geschickt. Wir können nicht glauben, was wir da sehen, sind beide völlig fassungslos. Mehr als 1,50 Meter hoch steht das Wasser in der Garageneinfahrt unserer Redaktion. Damit ist klar, dass auch unsere Büros nicht verschont geblieben sind. Sonja kann das Haus nicht verlassen, weil die komplette Innenstadt überflutet ist. Auch aus Stolberg erreichen uns Meldungen und Aufnahmen von dramatischen Zuständen. Weil es zu diesem Zeitpunkt keine Chance gibt, in die beiden Städte zu kommen, bleiben wir zunächst im Homeoffice und versuchen uns von dort ein Bild von der Lage zu machen. Dabei wird schnell klar: Es ist etwas für uns bis dahin Unvorstellbares geschehen.
15. Juli, Sonja Essers: Leute, die die ganze Zeit aus dem Fenster schauen, sind mir suspekt. Doch an diesem Morgen sind mein Freund und ich nicht davon wegzubewegen. Wir sitzen fest! Und das Wasser scheint nicht zu sinken. Wir haben keinen Strom. Wir haben kein fließend Wasser. Wir sind keineswegs auf eine Katastrophe vorbereitet. Während wir wie gebannt auf die braune Brühe starren, stellen wir uns eine Frage nach der anderen. Haben wir genügend Essen? Wie sieht es mit Trinkwasser aus? Und wie lange werden wir noch erreichbar sein, bis die Handyakkus aufgeben? In den ersten Stunden dieses Morgens muss ich mich erst einmal zurechtfinden. Plötzlich ertönt die Stimme meines Freundes: „Ich glaube, es geht zurück!“ Er hat recht. Wir zählen die Backsteine des gegenüberliegenden Hauses. Tatsächlich. Das Wasser sinkt. Ich könnte weinen vor Erleichterung.
15. Juli, Sonja Essers: Um 11.50 Uhr wagen wir es. Wir verlassen die Wohnung. Wie hoch das Wasser stand, ist deutlich im Flur zu sehen. Schlamm bedeckt Boden und Wände. Wir öffnen die Haustür. Das Wasser ist noch immer nicht komplett zurückgegangen. Aber wir sitzen nicht mehr fest. Erleichterung macht sich breit. Es fühlt sich so an als könnte ich endlich wieder atmen. Sind wir zunächst noch optimistisch, dass mit Besen und Schrubber Schlamm und Wasser beseitigt werden können, wird uns diese Hoffnung schnell genommen. Das ganze Ausmaß der Schäden ist zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemandem bewusst.
15. Juli, Caroline Niehus und Michael Grobusch: Am Mittag verlassen wir das Homeoffice und machen uns auf den Weg nach Eschweiler. Die Innenstadt ist weiträumig abgesperrt. Also ziehen wir zu Fuß weiter. Wir sehen viel Zerstörung, noch mehr Schlamm und so unglaublich viele Menschen, die ihre Wohnungen verlassen haben und versuchen, etwas von ihrem Hab und Gut zu retten. Später werden wir erfahren: oftmals vergeblich. Unsere Kollegin Merve Polat, die uns in diesem Sommer als Volontärin unterstützt, erlebt Vergleichbares in Stolberg. Auch hier wird mit dem Rückzug der Wassermassen immer deutlicher sichtbar, was diese angerichtet haben. Uns alle macht das sprachlos. Und trotzdem müssen wir die Eindrücke und Erlebnisse, die uns übermannen, in Worte fassen. Das fällt schwer, verdammt schwer.
15. Juli, Caroline Niehus und Michael Grobusch: Über die Zweifaller Straße bahnen wir uns einen Weg durch die Kraterlandschaft nach Vicht, wo am Abend Armin Laschet erwartet wird. Kurz hinter Bernhardshammer wird die Fahrbahn noch immer vom Vichtbach überspült, wir fahren durch eine riesige Wasserlache. Uns begleiten die weggerissenen Fassaden der Industriebetriebe. In Vicht angekommen herrscht eine gespenstische Stimmung. Bis auf Politiker und Medienvertreter ist kein Mensch in Sicht, das graue, immer noch regnerische Wetter bildet die passende Kulisse zum völlig zerstörten Umfeld. Am Haus an der Ecke zur Leuwstraße ist die Wassermarke besonders deutlich zu sehen – sie liegt auf ungefähr drei Metern Höhe, knapp unter den Fenstern der ersten Etage. Irgendwie surreal. Durch das Trümmerfeld an der Eifelstraße zu laufen, ist extrem bedrückend und verdeutlicht nach dem langen Tag allmählich, was in der vergangenen Nacht eigentlich passiert ist.
16. Juli, Caroline Niehus und Michael Grobusch: In beiden Städten hat das große Aufräumen begonnen. Und damit auch das Sichten der Schäden. Wir suchen den Krisenstab der Stadt Stolberg in der Hauptwache auf. „Wie sind Sie hier reingekommen?“, fragt der Beigeordnete Michael Ramacher erstaunt, als er uns sieht. In normalen Zeiten würde es wohl nicht gelingen, die Wache unbemerkt zu betreten. Doch an diesem Tag ist (fast) alles anderes. Wir erleben hautnah, was Krisenmanagement nach einer Hochwasserkatastrophe bedeutet. Vor allem Hektik und Stress, aber auch den unbändigen Willen, mit vereinten Kräften die Lage unter Kontrolle zu bekommen.