Unfall auf der Hahner Straße : Milly (8), gestorben am 6. August 2020
Simmerath/Aachen Nach einer Kollision zwischen Simmerath und Roetgen ist vor 20 Monaten ein achtjähriges Mädchen gestorben, es hieß Milly. Vor Gericht beschreibt die Mutter, wer ihre Tochter war – und wie sie versucht, ohne sie weiterzuleben.
Seit sie wieder gehen kann, läuft Sabrina L. jeden Tag zu einem Friedhof in Eschweiler, auf dem ihre Tochter begraben liegt, Milly, gestorben am 6. August 2020, drei Tage nach einem schweren Autounfall auf der Hahner Straße zwischen Simmerath und Roetgen. Dass Milly gestorben war, erfuhr Sabrina L. erst Wochen später, auch an ihrer Beerdigung nahm sie nicht teil, weil sie selbst nach dem Unfall fast vier Wochen lang im Koma lag. Ein ganzes Jahr brauchte Sabrina L., um sich wieder halbwegs zurück ins Leben zu kämpfen.
Am Aachener Landgericht läuft seit dem 25. März der Prozess gegen zwei junge Männer aus Alsdorf, der Vorwurf lautet Mord. Die beiden sollen an diesem Tag ein Rennen auf der Hahner Straße gefahren sein und so die Frontalkollision verursacht haben, die zu Millys Tod führte. Doch am Montag, dem dritten Verhandlungstag, trat dieses Geschehen zeitweise in den Hintergrund.
Am frühen Nachmittag betrat Sabrina L. den Zeugenstand, 34 Jahre alt, Polizistin. Eine zierliche, sportliche Frau, die seit dem Unfall geht wie jemand, der mindestens doppelt so alt ist. Infolge des Unfalls brach ihre Wirbelsäule drei Mal, sie erlitt einen schweren Schlaganfall, musste das Sprechen ebenso wie das Gehen neu lernen. An den Folgen dieser und vieler anderer Verletzungen wird sie ihr Leben lang leiden, physisch und psychisch. Sie sagte, sie komme sich oft vor „wie ein angeschossenes Reh“; nichts sei mehr, wie es war.
Weil Prozesse vor den Großen Straf- und Jugendkammern das angeklagte Tatgeschehen so gut wie möglich aufklären sollen, gehört es zu solchen Prozessen, dass dem Opfer ein Gesicht gegeben wird, dass jeder, besonders auch die Angeklagten, erfahren, wer das Opfer war. Sabrina L. erzählte mit großer Selbstbeherrschung und großer Tapferkeit von ihrer Tochter, und während sie das tat, weinte der 20 Jahre alte Angeklagte S., der den Unfall am 3. August 2020 zweifelsfrei verursacht hatte, bittere Tränen.
Milly, sagte ihre Mutter, müsse man sich als lebhaftes Mädchen mit vielen Hobbys vorstellen, tierlieb, sozial, empathisch. Sie ritt, schwamm, tanzte und besuchte die zweite Klasse der Grundschule in Eschweiler-Hastenrath. Hatte viele Freundinnen, von denen einige Milly an der Stelle des Unfalls einen letzten Gruß hinterlassen hatten. Wer den kleinen Gedenkort an der Hahner Straße je gesehen hat, wird ihn nicht vergessen: Kinder, die mit Worten und Bildern Abschied von einem Kind nehmen.
Milly hatte trotz ihres Alters im Rahmen von Urlaubsreisen Teile Asiens und Afrikas kennengelernt, und obwohl ihre Mutter es nicht ausdrücklich erwähnte, war sie hörbar stolz, dass Milly sich dort schnell zurechtgefunden und sogar Freude daran hatte, sich Fremdem wie Fremden zu öffnen und es vorurteilsfrei als etwas Positives zu begreifen. Milly war, sagte Sabrina L., ein sehr zufriedenes Kind.
Millys Eltern trennten sich, als sie drei war, beide hatten bald neue Lebensgefährten. Doch die Eltern behielten einen guten Kontakt, schon um die Reibung, die für Kinder bei Trennungen immer spürbar wird, auf ein Minimum zu reduzieren. Dem Vater, der nach Sabrina L. aussagte, war von seiner Tochter besonders diese Begebenheit in wärmster Erinnerung: In ihre Klasse ging damals ein Kind aus einer sozial schwächeren Familie. Irgendwann fiel Milly auf, dass dieses Mädchen in den Pausen nie etwas aß, weil ihre Eltern ihr nichts mit in die Schule gaben. In dem Wissen, dass sie mittags zu Hause in jedem Fall etwas zu essen bekommen würde, gab Milly ihr Pausenbrot fortan diesem Mädchen. Schweigen im Gerichtssaal.
Die Rechtsmedizinerin brauchte am Montag vor Gericht fast neun Minuten, um alle Verletzungen aufzuzählen, die Milly bei dem Unfall am 3. August 2020 erlitten hatte. Wie ihre Mutter wurde sie ins Aachener Klinikum geflogen, sie kam auf die Intensivstation für Kinder. Ihr Vater, der am 3. August 2020 nachmittags mit dem Hund spazieren war, erhielt einen Anruf seiner Lebensgefährtin, dass er am besten schnell ins Klinikum fahren solle, Sabrina L., ihr Lebensgefährte und Milly hätten einen Unfall gehabt. Erst dort erfuhr Millys Vater, wie schlimm die Dinge wirklich um seine Tochter standen. Er blieb im Klinikum.
Eine schwere Entscheidung
Am Mittwoch, 5. August 2020, zwei Tage nach dem Unfall, sagten die Ärzte Millys Vater, dass seine Tochter es mit größter Wahrscheinlichkeit nicht schaffen werde, dass sie allenfalls die lebensverlängernden Maßnahmen aufrechterhalten könnten. Sie stellten den Vater vor die Wahl, ob die lebenserhaltenden Maßnahmen verlängert werden sollten oder nicht, und der Vater war mit dieser Entscheidung ebenso überfordert, wie es jeder andere Mensch auch gewesen wäre. Er fragte, ob man Millys Mutter aus dem künstlichen Koma holen könne, um zu versuchen, sich mit ihr zu beraten. Die Ärzte stimmten zu.
Am Donnerstag, 6. August 2020, leiteten die Ärzte um 6 Uhr morgens das Aufwachen von Sabrina L. ein. Gegen 9 Uhr jedoch musste der Versuch erfolglos abgebrochen werden. Millys Vater besprach die Lage mit Sabrina L.s Eltern, Millys Großeltern. Zu dritt entschieden sie, die lebensverlängernden Maßnahmen zu beenden.
Der Vater ging in Millys Zimmer, ein Arzt unterbrach die Zufuhr der lebenserhaltenden Medikamente. Ihr Vater setzte sich zu ihr ans Bett, schloss sie in seine Arme und wartete es ab. Um 11.40 Uhr stellten die Ärzte Millys Tod fest. Sie starb, wenigstens das, in den Armen ihres Vaters.
Der Prozess wird am Dienstag fortgesetzt.