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Unartikulierte Laute und lauter Aufschrei: „Tag der Begegnung“ erinnert an ein umstrittenes Urteil vor 20 Jahren

Unartikulierte Laute und lauter Aufschrei : „Tag der Begegnung“ erinnert an ein umstrittenes Urteil vor 20 Jahren

Die Klage eines Nachbarn in Stockheim sorgte vor über 20 Jahren für bundesweites Aufsehen: Ein Musiklehrer hatte sich von „unartikuliertes Schreien, Rufen, Gurgeln, Stöhnen, Lachen und Lallen“ sieben geistig behinderter Männern in einer benachbarten Wohngruppe im Garten belästigt gefühlt. Die Justiz gab dem Mann in Teilen recht, was eine große bundesweite Protestwelle auslöste.

Diese mündete in den „Tag der Begegnung“, der Ende Mai zum 20. Mal stattfindet.

Im Jahr 1998 bestätigte das Bundesverfassungsgericht letztinstanzlich das Urteil des Oberlandesgerichts Köln. Zu diesem Zeitpunkt war Vera Wilden acht Jahre alt und lebte ebenfalls in der Nachbarschaft der Außenwohngruppe, die vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) betrieben wurde. „Nicht alle Nachbarn haben sich belästigt gefühlt“, berichtet sie heute.

Am Familientisch war die Diskussion natürlich in dieser Zeit ein bestimmendes Gesprächsthema, zumal sich die Achtjährige mit der gleichaltrigen Tochter einer Betreuerin der Wohngruppe angefreundet hatte. „Es war für mich normal, Zeit in der Wohngruppe mit den Mehrfachbehinderten zu verbringen.“ Als Kind habe man keine Berührungsängste gehabt.

Gedanke der Teilhabe

Mehr noch: Die dortigen Erfahrungen legten den Grundstein für ihren beruflichen Werdegang. Inzwischen arbeitet sie als Heilerziehungspflegerin in den Rurtalwerkstätten und betreut dort Schwerstmehrfachbehinderte. „Ich habe schnell gespürt, dass ich in diesem Bereich arbeiten möchte“, erinnert sie sich. In der Gruppe 7 des Werks 6 der Rurtalwerkstätten betreut sie mit ihren Kollegen zehn Mitarbeiter.

Der wirtschaftliche Ertrag spielt keine entscheidende Rolle, im Mittelpunkt steht der Gedanke der Teilhabe oder die Frage: Wie kann ich die Menschen befähigen, möglichst viele Dinge des Lebens selbstständig zu leisten. Viel Geduld und Training sind dafür erforderlich. „Wenn es uns gelingt, dass jemand, der vorher nicht laufen konnte, einige Schritte gehen kann, dann ist dies ein großer Erfolg“, sagt Vera Wilden. Rückschläge gebe es natürlich auch immer wieder.

Die Ereignisse des Jahres 1998 haben bei einigen Menschen Spuren hinterlassen. Ralf Schildberg war von 1993 bis 2008 in der Wohngruppe in Kreuzau tätig, heute leitet er das Team im Wohnbereich Erftstadt-Lechenich. „Ich bin von dem Urteil auch heute noch geschockt und es ist nach wie vor ein Thema, wenn ich mit Kollegen von damals zusammenkomme“, berichtet er. Die Vorgaben der Richter umzusetzen. Der Landschaftsverband Rheinland sollte als Träger der Wohngruppe zwischen dem 1. April und dem 31. Oktober durch „geeignete Maßnahmen“ verhindern, dass von den auf seinem Grundstück untergebrachten geistig behinderten Personen Lärmeinwirkungen zu bestimmten Tageszeiten auf das Grundstück des Nachbarn dringen konnten. Im Urteil zeitlich festgesetzt wurden  an Sonntagen und gesetzlichen Feiertagen ab 12.30 Uhr, mittwochs und samstags ab 15.30 Uhr und an den übrigen Werktagen ab 18:30 Uhr.

Schon damals war unklar, wie das Urteil umgesetzt werden sollte. „Was sollten das denn bitte für Maßnahmen sein? Sollten wir die Bewohner einsperren?“, fragt Ralf Schildberg. Letztlich stellte sich heraus, dass die Zeiten nur schwierig einzuhalten waren. „Man kann einem Menschen an einem schönen Sommertag nicht verbieten, nach draußen zu gehen. Das wäre menschenunwürdig“, sagt Schildberg. Natürlich habe man weiterhin alles unternommen, Rücksicht zu nehmen – „aber das haben wir vor dem Urteil auch schon getan.“ Letztlich habe sich die Lage entspannt.

In der Tat war der Medienrummel schnell vorbei, nach dem Urteil ist es um die Wohngemeinschaft in Stockheim in Öffentlichkeit schnell ruhiger geworden. Klagen von Nachbarn gab es nicht mehr. Vera Wilden ist heute davon überzeugt, dass die deutliche Mehrheit der Menschen in Stockheim sich nicht belästigt fühlten. Ohnehin habe sich inzwischen vieles in ihren Augen verbessert: „Es ist nicht mehr so, dass Menschen im Supermarkt den Gang wechseln, wenn sie einen behinderten Menschen sehen.“ Neugierige Blicke gebe es zwar noch, aber die seien auch in Ordnung. Auch Außenwohngruppen sind inzwischen häufiger, als dies noch vor 20 Jahren der Fall war. Vera Wilden spricht davon, dass die Gesellschaft „intelligenter“ geworden sei. Darüber hinaus sei das Thema Teilhabe in aller Munde.

Wohngruppe löste sich auf

Der Grund der Nachbarschaftsklage in Stockheim besteht nicht mehr. Im Jahr 2008 löste der LVR die Wohngruppe auf. Dies steht aber nicht im Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren zehn Jahre zuvor. „Hierfür waren schlicht baurechtliche Normen verantwortlich“, berichtet Ralf Schildberg. Bei dem Gebäude handelte es sich um ein gewöhnliches Einfamilienhaus. Die Bewohner seien zum Teil in Doppelzimmern untergebracht gewesen, man habe die oberen Stockwerke nur über eine schmale Betontreppe erreichen können. „Das Haus war für die Unterbringung von Menschen mit Behinderung langfristig nicht geeignet“, sagt Schildberg. Die Klage des Nachbarn und die anschließenden Diskussionen lassen ihn jedoch immer noch nicht los.

Einmal im Jahr erinnert der „Tag der Begegnung“ an das Gerichtsverfahren um die Stockheimer Wohngruppe, der den beschaulichen Eifelort in die bundesweiten Schlagzeilen brachte.