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Landarztmangel: Warum niemand eine neue Praxis gründen will

Landarztmangel : Warum niemand eine neue Praxis gründen will

14,5 neue Hausarztpraxen wären im Kreis Düren möglich. Es gibt aber kaum Bewerber. Dr. med. Ralf Kowalzik sieht folgende Ursachen: fehlende Hilfestellungen vonseiten der KV, hoher Verwaltungsaufwand, zu viele Vorschriften und drohender Regress.

Für die neuen Hausarztsitze im Kreis Düren gibt es so gut wie keine Interessenten. Von den 14,5 möglichen Neuzulassungen sind 13 vakant. Das bestätigt die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNO), nachdem die Bewerbungsfrist im Januar abgelaufen war.

Der Grund dafür lässt sich laut Dr. med. Ralf Kowalzik in einem Wort zusammenfassen: Abkürzungen.

Kowalzik ist 55 Jahre alt und hat vor zwei Jahren in Eschweiler über Feld eine neue Hausarztpraxis eröffnet. Die einzige Neugründung im Kreis Düren seit Jahren, manche behaupten sogar seit Jahrzehnten. Und wenn man Kowalzik heute fragt, ob er diesen Schritt bereut, fällt seine Antwort sehr eindeutig aus. Ja.

Kowalzik sitzt mit verschränkten Armen da. Wenn er redet, schließt er zwischendurch immer mal wieder die Augen. Er spricht mit Nachdruck, wiederholt Formulierungen wie „Das ist irre“ und „Das können Sie sich nicht vorstellen“.

Mit dem Wechsel in die Selbstständigkeit wollte er eigentlich weniger arbeiten. „Irgendwann mal runterkommen, mehr für die Familie da sein.“ Dazu das enge Vertrauensverhältnis zwischen einem klassischen Landarzt und seinen Patienten, das sei für ihn ein hohes Gut.

Der 55-Jährige lebt mit seiner Frau und seinen drei Söhnen in Eschweiler über Feld, nachdem er während der Bundeswehrzeit seiner Frau viele Jahre „als männliche Soldatenbraut quer durch die Republik gereist“ war. Aber statt wie erhofft freitags um 13 Uhr das Stethoskop auf den Schreibtisch zu legen, heiße es für ihn nun: in der Mittagspause Hausbesuche und ab 16 Uhr Wochenenddienst als leitender Notarzt im Kreis Düren und im Rhein-Erft-Kreis. Und unter der Woche? „Bin ich bis 22 Uhr in der Praxis. Jeden Tag. Jeden“, sagt Kowalzik. Die Gründe dafür sind vielschichtig.

Die wesentlichen verbergen sich seiner Erfahrung nach hinter Abkürzungen wie QM (Qualitätsmanagement), EBM (einheitlicher Bewertungsmaßstab) und IT (Informationstechnik und Datensicherheit). Ebenso viel Zeit wie Kowalzik in Patientenkontakte investiert, verbringt er mit Verwaltung.

Herr über all diese Abkürzungen, den damit verbundenen Aufwand und Ursache dafür, dass Neugründungen so unattraktiv sind, sei die KV. Unter Kollegen stehe KV nicht für „Kassenärztliche Vereinigung“, sondern für „kannste vergessen“, sagt Kowalzik. Er lacht, seine Stimme ist aber voller Verbitterung.

Die KV regelt alle Belange niedergelassener Ärzte und ist deren einziger Ansprechpartner. Sie ist zuständig für Abrechnungsmodalitäten, Beschränkungen bei Folgerezepten für chronisch Kranke, Vorschriften für die Praxisausstattung und Hygiene.

Kowalziks Vorwurf: Während es hier eine Flut an Vorschriften gebe, herrsche an anderer Stelle ein eklatanter Mangel. In der entscheidenden Frage, wie man eine Praxis gründet, leiste die KV keine praktische Hilfe, obwohl es erklärter Wille aller sei, Landärzte zu fördern. Gespräche mit Banken, Kreditaufnahmen, Versicherungen, Fördermittelanträge und wie diese Zuschüsse zu versteuern seien – dabei sei man auf sich gestellt.

Und seien diese Hürden genommen, hänge einem ab der ersten Sprechstunde der drohende Regress im Nacken. Bei jedem noch so kleinen Fehler lauere die Gefahr, verklagt zu werden.

Eines seiner vielen Beispiele: Wundauflagen. Die wenigsten dürfen in Praxen verwendet werden. Frage man die KV am Telefon nach den zugelassenen, werde man durch die Homepage auf endlos lange PDF-Dateien gelotst, die auflisteten, welche Artikel in welchen Größen nicht gestattet seien. „Nennen Sie mir fünf, die ich nehmen darf“, bat Kowalzik. „Fünf“. Er hebt die Hand und zeigt fünf Finger. Er macht eine Pause und atmet durch. Die Antwort: Das dürfe man nicht. „Dieser Wahnsinn. Und das hört nicht auf.“ Kowalzik schluckt schwer.

Auf Anfrage nennt die KVNO „die Beratung, Vorbereitung und Begleitung von Ärzten und Psychotherapeuten im Vorfeld einer Niederlassung eine unserer Kernaufgaben“ und schickt eine Reihe von Links, die zu sehr viel Infomaterial, Videos und Beratern führen. Kowalzik behauptet auch nicht, es sei niemand zu erreichen, „aber man erhält nie eine konkrete Antwort“.

Eine eingefahrene Praxis zu übernehmen, ist einfacher. Das liegt auf der Hand. Das betrifft nicht nur das Technische und Administrative, das Personal und Erfahrungswerte, sondern ganz simpel auch den Patientenstamm. Kowalzik musste ihn neu aufbauen. Und an der Stelle traten widrige Umstände ein, auf die er beim besten Willen keinen Einfluss hatte.

Denn Kowalzik ist beileibe kein unerfahrener oder im Kreis Düren unbekannter Arzt, kein Spätberufener oder gar Stress und hoher Belastung nicht gewachsen. Sein recht beeindruckender Lebenslauf ist auf der Praxis-Homepage nachzulesen (http://www.arztpraxis-kowalzik.de/Lebenslauf/index.php/). Seine letzten Stationen: Oberarzt in der Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie im Krankenhaus Düren und später für Kardiologie und internistische Intensivmedizin, dann im St.-Elisabeth-Krankenhaus in Jülich Oberarzt der Geriatrie.

Teilweise parallel dazu hatte er in Hausarztpraxen eine Anstellung, um seinen Allgemeinmediziner zu machen und eine „warme Übernahme“ in die Wege zu leiten. Letzteres hatte sich zerschlagen. „Im Kreis Düren gibt es derzeit viele über 60, die ihre Praxis aufgeben wollen oder müssen. Gegründet in den noch goldeneren Jahren, in den 70ern, viel Herzblut reingesteckt nach dem Motto ,das ist mein Lebenswerk‘. Das verstehe ich“, sagt Kowalzik. Aber für ihn waren die Preise zu hoch.

Als die KV dann eine Neuzulassung freigab, bewarb er sich. Einzige Frage vor dem Zulassungsausschuss: „Wann können Sie anfangen?“. Mehr aus dem Bauch heraus antwortete er: „Frühestens zum 1.1.2021“. In der alten Schule in Eschweiler über Feld ließ er dann auf die Schnelle eine Praxis herrichten. Fußboden, Wände, Geräte, Hardware, Software. Mitten in der Pandemie war es nicht gerade leicht, Handwerker und Techniker, geschweige denn eine Einweisung in die Software zu erhalten. „Ich musste ja am 4. Januar anfangen. Ich habe Blut und Wasser geschwitzt“, sagt der Hausarzt.

Plötzlich eine Dauerbaustelle

Dann war die Praxis eröffnet – und die Patienten blieben aus. Zwei Jahre Dauerbaustelle vor seiner Tür. Die Hauptstraße durch Eschweiler über Feld war vollgesperrt. Für ältere Menschen oder Patienten nach einer OP war er nicht zu erreichen.

„Der Kredit für die Praxisgründung muss aber bedient werden, auch der für unser Haus und die Miete für die Praxisräume“, sagt Kowalzik. Er brauchte andere Einnahmequellen. „Ich habe mich dann als leitender Impfarzt im Kreis Düren und als Notarzt wund gearbeitet.“ Wund trifft es im Wortsinn. Kowalzik erkrankte selbst, musste zweimal operiert werden, arbeitete unter Schmerzen weiter.

Sollte seine Frau das alles irgendwann gar nicht mehr mitmachen, würde er das Handtuch schmeißen. „Dann erkläre ich mich sofort bereit, als Berater zu arbeiten und begleite junge Ärzte, die sich niederlassen wollen. Ehrenamtlich.“

Ob das viele wären, bleibt dahingestellt.