Navid Kermani in Düren : Gehaltvolle Gedanken über Gott und die Welt
Düren Neue Perspektiven dank uralter Fragen: Navid Kermani liest im Burgau-Gymnasium in Düren im Rahmen eines Kirchenprojektes aus seinem neuen Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“.
Es ist ein rührender Abschluss und einer, der das Wesentliche auf den Punkt bringt: „Sie haben meine Seele berührt“, sagt Petra Bungarten auf der Bühne. „Der Moslem hat mir als Christin völlig neue Perspektiven auf meine Religion und meinen Glauben eröffnet.“ Die Gemeindereferentin der Pfarre St. Lukas spricht zu Navid Kermani, der in den zurückliegenden rund 90 Minuten am Mittwochabend aus seinem neuen Buch „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen: Fragen nach Gott“ gelesen hat.
Was Bungarten sagt, ist bemerkenswert. Denn der deutsch-iranische Schriftsteller, Orientalist und Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels präsentiert nicht etwa bahnbrechende Erkenntnisse oder vormals unbekannte Ideen. Neue Perspektiven eröffnet er mit uralten Fragen und den Gedanken, die er sich dazu macht: Wo kommen wir her, wo gehen wir hin? Wieso existieren wir? Und wer ist dafür verantwortlich?
Kermanis entscheidender Kniff, das, was sein Buch zugänglicher macht als Werke von Anselm von Canterbury oder Thomas von Aquin, ist die Stilform. Angelegt hat er die 240 Seiten als Dialog, und zwar mit seiner zwölfjährigen Tochter. „Als er im Krankenhaus lag, sollte ich Opa versprechen, dich den Islam zu lehren, wenn er nicht mehr da ist, unseren Islam, den Islam, mit dem ich aufgewachsen bin“, heißt es gleich zu Beginn. Kermani gehorcht seinem Vater, mit Missionierung hat sein Buch allerdings nichts gemein.
Der 55-Jährige unterrichtet seine Tochter nicht in den islamischen Glaubensinhalten, er erzählt von den Themen, die die Religionen gemeinsam haben: Himmel und Erde, Leben und Tod, Liebe und Hass. Die Adressatin zwingt den Erzähler dabei, auf komplizierte Begriffe wie Eschatologie oder Kontingenz zu verzichten. Und sie zwingt ihn dazu, Positives hervorzuheben. Wer will schon vor seiner Tochter schwarzmalen?
Also erzählt Kermani, Abend für Abend, Kapitel für Kapitel. Zum Beispiel von dem Ursprung der Religionen: dem Staunen – über die unendliche Vielfalt auf der Welt, über Naturgewalten, über Schönheit, das Staunen im Kreißsaal, das Staunen auf dem Sterbebett. Staunen, das immer mehr Erwachsene verlernt hätten. „Wir verlieren den Bezug zu den existenziellen Erfahrungen, weil wir alles immer nur erklären“, sagt Kermani im Bühnengespräch mit Stefan Voges vom Bistum Aachen.
Die Lesung ist Teil eines sogenannten Bibelprojektes der drei Dürener Gemeinden St. Lukas, St. Elisabeth und St. Franziskus. Unter dem Titel „Alte Botschaft – neues Kleid“ sind noch bis zum 10. April mehrere Veranstaltungen geplant, etwa „Kochen mit der Bibel“ (25. März auf dem Dürener Marktplatz) oder ein Besuch in der Aachener Synagoge am 26. März.
Damit, dass Kermani zusagen würde, hat niemand gerechnet, wie Petra Bungarten in ihrer Danksagung berichtet. Einer der bedeutendsten Intellektuellen des Landes kommt nach Düren? Das habe sich niemand so recht vorstellen können. Sie habe Luftsprünge gemacht, als die positive Antwort gekommen sei, sagt Bungarten.
Das Unerklärte und Unerklärliche erkennen, sich faszinieren lassen, zweifeln und nachdenken: Dafür wirbt Kermani in seinem Buch und vor den rund 300 Gästen in der Aula des Gymnasiums. Dabei belehrt er nicht. Kermani begegnet sowohl seiner Tochter im Gespräch als auch den Zuhörenden bei der Lesung auf Augenhöhe. Und damit bereichert er vermeintlich nebenbei den interreligiösen Dialog, vor allem den der drei großen monotheistischen Religionen Islam, Christentum und Judentum.