Cyber-Mobbing : Die Sanitäterin, die Nacktfotos und die Lügen
Kreis Düren Arbeitskollegen verbreiten pornografische Bilder und bringen diese mit Christin Scherf in Verbindung – aber die 29-jährige Frau wehrt sich öffentlich. „Das ist selbstverständlich“, sagt sie.
Die Nacktbilder kursierten vermutlich schon seit Monaten im Kollegenkreis von Christin Scherf. Unter Kollegen, mit denen die 29-Jährige seit Jahren Zwölf-Stunden-Schichten im Rettungsdienst fuhr, Unfallopfer reanimierte, aber auch zusammen kochte und mit denen sie zum Teil ein freundschaftliches Verhältnis pflegte.
Auf den Bildern sind Nahaufnahmen einer jungen, rothaarigen Frau mit üppigen Rundungen zu sehen: ihr nacktes Gesäß, das von unzähligen Striemen übersät ist, Details anderer Körperteile, wie sie auf dem Bett liegt, wie sie hinter einem durchsichtigen Vorhang steht. Ihr Gesicht bleibt verborgen. Vermutlich stammen diese Bilder von einer Fetisch-Datingplattform. Die Screenshots verbreiteten sich in den letzten Monaten wie ein Lauffeuer von Rettungswache zu Rettungswache in der Region. „Guck mal, das ist doch die Scherf...“ Und keiner intervenierte.
Aber die Bilder zeigen „die Scherf“ nicht. Es mag Ähnlichkeiten in Haarfarbe und Statur geben, dann hören die Parallelen aber schon auf.
Christin Scherf hat eine Doppelfunktion. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Notfallsanitäterin beim Malteser Hilfsdienst im Rettungsdienst der Stadt Aachen. Diese Funktion füllt sie inzwischen nur noch in einer Nebentätigkeit aus. Ihre Hauptaufgabe besteht in der Aus- und Weiterbildung ihrer Kollegen am Notfallbildungszentrum Eifel-Rur in Kreuzau-Stockheim, einer Kooperation zwischen dem Deutschen Roten Kreuz in Nordrhein und dem Rettungsdienst des Kreises Düren. Jeder Rettungsdienstmitarbeiter ist jährlich zu einer einwöchigen Weiterbildung verpflichtet. Jeder Rettungsdienstmitarbeiter im Kreis Düren begegnet also früher oder später Christin Scherf.
Vor vier Wochen erhielt sie den ersten Hinweis eines Kollegen aus dem Lehrbetrieb des Notfallbildungszentrums (Nobiz) über die Vorgänge an einer Rettungswache. „Die ersten zwei Tage war ich wie gelähmt“, erzählt die junge Frau. „Ich wusste nicht, wie ich reagieren soll.“ Dann begann sie zu googlen, holte sich Rat bei der Polizei und einem Rechtsanwalt. Bis heute weiß sie nicht, wer den Stein ins Rollen und sie mit diesen Bildern – vorsätzlich oder irrtümlich – in Verbindung brachte, wohl aber, dass die Fotos hauptsächlich über Whatsapp weitergereicht wurden. Das bestätigten ihr auch Kollegen von ihrer eigenen Wache. Zwei Wochen dauerte es, bis sie die ersten Fotos selbst zu Gesicht bekam. Sie war geschockt.
Dann wuchs von Tag zu Tag die Wut in ihr. Wut darüber, dass offenbar die Loyalität der Kollegen untereinander größer ist als Bemühungen, das Opfer, also sie, zu schützen.
Die Verbreitung von Nacktbildern über soziale Medien sind keine Seltenheit – die entscheidenden Fragen aus juristischer Sicht sind, ob der Betreffende tatsächlich selbst zu sehen ist, er eingewilligt hat und ob er zu schaden kommt. „Wenn ich feststelle, dass etwas von mir im Internet kursiert, habe ich zunächst einmal das Recht am Bild. Das ist dann eine zivilrechtliche Frage“, erklärt Marion Laßka vom kriminalpolizeilichen Opferschutz bei der Polizei Düren. Man kann den Verantwortlichen auffordern, das Bild zu löschen, den Beitrag auf der Plattform blockieren (beispielsweise indem man sich an Facebook wendet) und auf Unterlassung klagen.
„Wenn es etwas ist, was den höchstpersönlichen Lebensbereich betrifft, also die Sexualität oder Familie, dann bewegen wir uns im Strafrecht“, erklärt Laßka weiter. „Aber nur, wenn es auch um die eigene Person geht. Sonst kann man vielleicht von dem bewussten Verbreiten einer Lüge sprechen, das wäre dann Verleumdung, oder vom Verbreiten eines Gerüchts, das wäre dann üble Nachrede. Beides führt zu einer Rufschädigung, beides ist ein Straftatbestand, aber etwas schwerer zu greifen. Man müsste nämlich dem Verursacher nachweisen, dass er dem Opfer vorsätzlich schaden wollte.“ Und wer gibt das schon freiwillig zu.
Christin Scherf entschied sich nicht nur, ihre beiden Arbeitgeber zu kontaktieren, sondern auch, auf Facebook eine Videobotschaft zu posten, in der sie sich von den Fotos distanziert und das Verhalten der Kollegen verurteilt. „Eine Freundin von mir meinte, das sei total mutig gewesen“, sagt Scherf. „Ich weiß, dass sie das sehr nett meinte, und so ist es auch bei mir angekommen. Aber ich finde, das sollte nicht mutig, sondern selbstverständlich sein, dass man sich gegen so etwas wehrt.“

Ihr Video wurde innerhalb weniger Stunden 25.000 Mal geklickt. Ihre virtuelle Präsenz hat sie unter anderem einem Blog aus ihrem Arbeitsalltag im Rettungsdienst zu verdanken.
Den unbekannten Verbreiter des Bildmaterials hat die 29-Jährige angezeigt. Wegen Verleumdung, also bewusster Verbreitung einer Lüge über ihre Person.
Und ihre beiden Arbeitgeber gaben ihr Rückendeckung. Der stellvertretende Schulleiter des Nobiz, Ralf Schmitz, erklärt, dass Christin Scherf sofort von der Lehrtätigkeit freigestellt wurde. Auch wenn die Verbreitung nicht an der Schule, sondern in dem anderen Tätigkeitsfeld der Dozentin stattgefunden habe, habe er in dem ersten Gespräch über den Vorfall als erstes gefragt: „Was brauchst du gerade? Was können wir tun?“
Und auch das Kollegium am Nobiz unternahm etwas. Es drehte ein sehr professionelles Video, in dem zuerst ein Dominostein angestoßen wird, und danach ein Stein nach dem anderen umfällt. Bis ein Finger den nächsten Stein festhält. „Wir schauen nicht weg“, lautet die Botschaft. Christin Scherf war gerührt.
Ralf Schmitz sinniert über die Umstände, wie es überhaupt soweit kommen konnte. Sexistische Sprüche oder die Verbreitung solcher Bilder seien kein Phänomen dieses Berufszweigs, ist er sich sicher. „Die Besonderheit des Rettungsdienstes ist aber, dass man zwölf bis 14 Stunden in einer Schicht gemeinsam verbringt. In höchsten Stresssituationen und in dienstlichem Privatleben auf engem Raum. Man spricht nicht umsonst von der Blaulichtfamilie.“ Eine Abgrenzung, wo Privates intim werde, falle hier vielleicht schwerer als in anderen Berufszweigen, wo man sich nur im Büro über den Weg läuft.
Gruppendynamik und eine Copingstrategie (eine Art Ventil) zu Stress, den man zuvor erlebt hat, will auch Christin Scherf nicht als begünstigenden Faktor ausschließen. „Und ich will auch nicht jedem einzelnen Täterschaft unterstellen“, sagt sie.
Auf die Frage, ob auch unmittelbar sexistische Sprüche und Anspielungen an sie gerichtet wurden, lacht sie nur kurz auf. „Das ist in meinen zehn Jahren im Rettungsdienst Alltag. Aber auf diese Fotos direkt bezogen nicht.“
Sie rät jeder Frau, die eine ähnliche Erfahrung wie sie machen musste, den Fall zur Anzeige zu bringen, die Stimme zu erheben, die Vorgesetzten zu kontaktieren und zu sagen: „Da passiert etwas, das nicht passieren darf“. Man müsse selbst aktiv werden, damit überhaupt ermittelt werde und weil der Arbeitgeber in den privatrechtlichen Bereich kaum eingreifen könne.
Ihre Lehrtätigkeit hat Christin Scherf übrigens nicht unterbrochen. Ob sie weiter im Rettungsdienst arbeiten möchte, hat sie noch nicht für sich entschieden. „Ich wollte das immer machen, ich stelle mir gerade aber die Frage, ob es das wirklich wert ist, weiter in dem Bereich zu arbeiten.“