Missbrauch im Bistum Aachen : Wer nennt endlich den Namen des Vergewaltigers Pfarrer M.?
Aachen/Düren Missio und Bistum Aachen streiten seit fast zwei Jahren darüber, wann der Name des pädophilen Geistlichen veröffentlicht werden soll, um weitere Opfer zu finden. Warum wir ihnen diese Entscheidung nun abnehmen.
Die Frau, die den Stein ins Rollen brachte, wurde von Pfarrer M. meistens mittwochnachmittags vergewaltigt. Tatort war das Rölsdorfer Pfarrhaus in Düren, späte 50er Jahre. Die Frau war damals ein Mädchen, neun Jahre alt, seit mehr als 60 Jahren lebt sie mit den Schmerzen und der Demütigung.
Diese Frau ging 2011 durch eine Ausstellung im Haus des katholischen Hilfswerks Missio Aachen, die den Namen von Pfarrer M. trug. M. hatte einen Teil der Exponate aus Westafrika zusammengetragen, die in der „Sammlung Africana“ ausgestellt wurden. Die Frau dachte, sie sehe nicht richtig, und informierte Missio darüber, was M. ihr Jahrzehnte zuvor angetan hatte. Daraufhin verschwand M.s Name, die Ausstellung allerdings blieb. Mehr passierte zunächst nicht, die Jahre vergingen.
Im November 2020 veröffentlichte das Bistum Aachen ein sogenanntes Missbrauchsgutachten, das 14 Fälle von Geistlichen des Bistums auflistet, die zwischen 1965 und 2019 sexueller Missbrauchstaten verdächtigt oder wegen solcher bereits verurteilt wurden. Fall Nr. 9 dieses Gutachtens befasst sich mit den mutmaßlichen Verbrechen von Pfarrer M.: Mindestens vier Mädchen soll er in seiner Zeit als Pfarrer von Rölsdorf, das heute zu Düren gehört, vergewaltigt haben. Eines der Mädchen soll sogar schwanger geworden sein. Doch die Fälle in dem Gutachten sind vollständig anonymisiert: keine Orte, keine Namen, nicht einmal Initialen. Kein Hinweis auf Pfarrer M.
Als Pfarrer Dirk Bingener diesen Fall Nr. 9 nach Veröffentlichung des Gutachtens las, stellte er weitere Recherchen an. Bald darauf stand für ihn fest: Der Geistliche aus Fall Nr. 9 muss Pfarrer M. sein, der zwischen 1978 und 1988 auch für Missio Aachen tätig war. Und dessen Ausstellung im Aachener Missio-Haus immer noch gezeigt wurde. Bingener ist seit 2019 Präsident von Missio Aachen, und als solcher fühlte er sich verpflichtet, Bischof Helmut Dieser davon in Kenntnis zu setzen, dass Fall Nr. 9 der Fall von Pfarrer M. ist.
Und nicht nur das: Seit eindreiviertel Jahren drängt Bingener darauf, dass die früheren Gemeinden des Pfarrers in Deutschland und Afrika über den Verdacht des sexuellen Missbrauchs informiert werden, damit sich mögliche weitere Opfer von Pfarrer M. bei Missio oder beim Bistum Aachen als früherem Arbeitgeber melden können. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass es noch weitere Betroffene gibt“, sagt Bingener. „Und wir müssen diesen Menschen helfen.“ Dazu gehöre auch, den Bischof in Afrika zu informieren und dabei zu unterstützen, Strukturen für Betroffene zu schaffen.
Doch Bischof Dieser weigert sich, M.s Namen zu veröffentlichen, seit eindreiviertel Jahren. Eine solche Namensnennung in den betroffenen Gemeinden müsse gut vorbereitet werden, erklärte Dieser. Retraumatisierungen von bislang unbekannten Opfern des Pfarrers M. müssten unbedingt vermieden werden.
Als lange Zeit nichts geschehen und M.s Name immer noch nicht veröffentlicht war, wandte sich Bingener schließlich an einen Journalisten, der den Fall aufgriff und kürzlich in der „FAZ“ über die ungewöhnliche Auseinandersetzung zwischen Bingener und Dieser berichtete. „Wir sind damit an die Öffentlichkeit gegangen, weil wir mit dem Abbau der Ausstellung nicht mehr warten konnten“, erklärt Bingener sein Vorgehen im Gespräch mit unserer Zeitung. Pfarrer M.s Name allerdings wurde auch im „FAZ“-Bericht nicht genannt. Kurz nach Erscheinen des Berichts veröffentlichte das Bistum Aachen eine Mitteilung, derzufolge eine Nennung von Pfarrern erfolge, die des sexuellen Missbrauchs verdächtig oder gar schon verurteilt sind. Allerdings erst im Herbst.
Der Druck der Angehörigen
Zunächst müsse eine Systematik für eine solche Namensveröffentlichung vorbereitet und juristisch geprüft werden, hieß es in der Mitteilung. Zudem müsse in Abstimmung mit verschiedenen Gremien sichergestellt werden, sogenannte Retraumatisierungen von Opfern möglichst zu vermeiden und genügend Betreuungsangebote zur Verfügung stellen zu können. „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“, lässt sich Bischof Dieser in der Mitteilung zitieren. Bei einer solchen Veröffentlichung durch das Bistum würden Täternamen nur in der jeweiligen Gemeinde und dort sozusagen im engsten Kreis per Verkündung im Gottesdienst genannt.
Als unsere Zeitung auf den Fall aufmerksam wurde, stand nach kurzer Recherche fest, dass Pfarrer M. tatsächlich Leonhard Meurer hieß, geboren 1916 in Düren, gestorben 1991 in Eschweiler. Zwischen 1941 und 1946 war er Kaplan in Willich-Anrath. 1946 war er kurze Zeit Kaplan in der Gemeinde St. Peter und Paul in Eschweiler, 1947 wurde er Präsident der Kolpingfamilie in Eschweiler. 1955 dann übernahm er die Pfarre in Rölsdorf.
Zwei Angehörige des Mädchens, das Meurer offenbar vergewaltigt und geschwängert hatte, hatten sich 1961 an den damaligen Aachener Bischof Johannes Pohlschneider gewandt, der Meurer nur kurze Zeit später versetzte: erst in den Ruhestand, dann in ein Kloster, dann an eine Schule, an der er als Religionslehrer arbeitete. Pohlschneider und seine Generalvikare Hermann Müssener und später Anton Josef Wäckers schoben Meurer hin und her, auch in die Bistümer Trier, Fulda und am Ende wurde Meurer ins Erzbistum Köln geschickt, wo er in Kerpen-Brüggen als Subsidiar tätig war, als eine Art Hilfspfarrer.
Trotz eines Reiseverbots, das Bischof Pohlschneider Pfarrer Meurer auferlegt hatte, reiste er mindestens ein Dutzend Mal nach Westafrika. Später war er auch im Auftrag von Missio dort. Meurer starb mit 84 Jahren, ohne für seine mutmaßlichen Verbrechen je zur Verantwortung gezogen worden zu sein.
Nun stellte sich unserer Zeitung folgende Frage: Sollen wir lediglich über den Streit zwischen Bistum und Missio berichten? Oder selbst den Namen veröffentlichen, da wir ihn herausgefunden hatten? Oder überlassen wir die Namensnennung Bischof Diesers Ermessen? Und der dringend vor einer unvorbereiteten Veröffentlichung des Namens gewarnt hatte, weil das Bistum nicht auf die Betreuung retraumatisierter Opfer vorbereitet sei?
Der Fall Meurer ist einer von Dutzenden, Hunderten allein in Deutschland, in denen die katholische Kirche jahrzehntelang in erster Linie sich selbst schützte und in zweiter Linie die Sexualstraftäter unter ihren Geistlichen. Und am wenigsten deren Opfer. Spätestens als das Bistum Aachen Ende der 2010er Jahre das Missbrauchsgutachten bei einer Münchner Rechtsanwaltskanzlei in Auftrag gab, musste Bischof Dieser klar sein, dass es unmöglich bei der anonymen Auflistung der Fälle bleiben können würde. Die Vorbereitungen für die Namensnennungen hätten also damals schon beginnen können, wenn nicht sogar müssen.
Außerdem gibt es in Deutschland ein Gesundheitssystem, das in der Lage ist, mit retraumatisierten Menschen umzugehen. Wer durch die Nennung des Namens retraumatisiert wird, kann sich an Ärzte oder Krankenhäuser wenden, an Therapeuten oder therapeutische Einrichtungen. Keinesfalls sind noch lebende Opfer Leonhard Meurers allein auf entsprechende Angebote von Bistum oder Missio angewiesen.
Die Zeit drängt
Und schließlich gibt es noch einen dritten Punkt, der eine große Rolle spielt: die Zeit. Die letzte im Moment bekannte Vergewaltigung, die Pfarrer Meurer begangen haben soll, liegt mehr als 60 Jahre zurück. Und jeden Tag wird die Chance etwas kleiner, weitere seiner Opfer zu finden, ihnen die Gelegenheit zu geben, ihre Geschichte zu erzählen und der katholischen Kirche gegenüber finanzielle Ansprüche geltend zu machen.
Zeitungen werden auch deshalb „vierte Gewalt im Staat“ genannt, weil es ihnen in Rechtsstaaten erlaubt ist, es sogar ausdrücklich von ihnen verlangt wird, genau hinzuschauen. Relevante Angelegenheiten öffentlich zu machen, die vor der Öffentlichkeit vertuscht werden sollen; Druck zu machen, wenn Institutionen Vorgänge von öffentlichem Interesse verschleppen. Über Täter zu berichten, die das Leben ihrer Opfer zerstört oder zumindest stark beeinträchtigt haben.
Deswegen hat sich unsere Zeitung dazu entschlossen, Leonhard Meurers Namen zu nennen.
Als unsere Zeitung Bischof Dieser davon unterrichtete, die Möglichkeit einer Namensnennung zu prüfen, wies er erneut auf die möglichen Gefahren einer solchen „unvorbereiteten Veröffentlichung“ hin: Im Bistum gebe es im Moment noch keine personellen Kapazitäten, potenziell Retraumatisierte, mögliche neue Opfer und deren Angehörige zu betreuen. Auch die Mitarbeiter, die sich mit der Anerkennung von Missbrauchsfällen beschäftigen, seien überlastet.
Missio-Präsident Bingener warnte ebenfalls vor einer „unvorbereiteten Veröffentlichung“ – wenn auch weniger nachdrücklich als Dieser –, obwohl er seit eindreiviertel Jahren auf die Namensnennung drängt. Bingener bat darum zu bedenken, was dies in den unvorbereiteten Pfarren auslöse und wie wichtig es sei, dass die Betroffenen aufgefangen werden können.
Und was sagen die Opfer?
Außerdem nahmen wir Kontakt zu Opfern auf. Einerseits zum Betroffenenrat im Bistum Aachen. Das strukturell und inhaltlich unabhängige Gremium ist Ansprechpartner für Menschen, die sexuelle Gewalt durch Angestellte im kirchlichen Dienst im Bistum erlitten haben. Es soll sie unterstützen, ihnen Gehör verschaffen. Manfred Schmitz ist einer der Betroffenen, die in diesen Rat gewählt worden sind, und er kann die Argumentation des Bischofs nicht nachvollziehen. „Die größte Retraumatisierung ist, dass nichts passiert“, sagt er. „Viele Betroffene werden mit ein paar Tausend Euro abgespeist. Das ist es, was retraumatisiert.“
Eine Veröffentlichung sei das, was sich viele Betroffene wünschten und was der Betroffenenrat seit langem fordere. Täter müssten benannt und dürften nicht weiter verehrt werden und als Namensgeber fungieren, wie es teils noch geschehe. Wichtig sei aber vor allem, dass durch eine Veröffentlichung die Chance bestehe, dass sich weitere Opfer melden und „dass Betroffene sehen, dass sie nicht alleine sind“.
Und schließlich hat unsere Zeitung auch mit zwei Opfern von Leonhard Meurer Kontakt aufgenommen; in einem Fall direkt, im anderen indirekt. Die Frau, die als neunjähriges Mädchen meistens mittwochnachmittags im Rölsdorfer Pfarrhaus von Pfarrer Leonhard Meurer vergewaltigt wurde, sagt, dass sie es für gut halte, wenn sein Name endlich veröffentlicht würde. Die andere Frau lässt mitteilen, sie fände dies „großartig“.