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Psychische Erkrankungen: Wer kümmert sich um die Kinder kranker Eltern?

Psychische Erkrankungen : Wer kümmert sich um die Kinder kranker Eltern?

Mehr als ein Viertel aller Erwachsenen in Deutschland leidet an einer psychischen Erkrankung. Viele von diesen Menschen sind Eltern. Das bedeutet, neben den Erkrankten selbst brauchen auch oft deren Kinder fachmännische Unterstützung.

Mama hatte es so fest versprochen: „Wir gehen zusammen in Eiskönigin 2!“ Und jetzt liegt sie nur auf dem Sofa herum. Plötzlich steht die Polizei vor der Tür, weil Papa denkt, die Nachbarn wollten ihn umbringen. Das sind nur zwei Szenarien, denen Kindern tagtäglich ausgesetzt sind. Nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) sind in Deutschland jedes Jahr 17,8 Millionen Menschen, 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung, von einer psychischen Erkrankung betroffen. Nicht wenige von ihnen sind Eltern.

Wie Kinder die Depression der Mutter, die Angststörung des Vaters oder noch ganz andere psychische Beeinträchtigungen ihrer Erziehungsberechtigten erleben, welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln, fällt so unterschiedlich aus, wie ihre Persönlichkeiten und die Verläufe der Erkrankungen sind: Mal werden sie in der Schule auffällig, mal bringen sie nur die besten Noten nach Hause. Mal leidet ihre Körperhygiene, mal werden sie zum Versorger der Familie, kaufen ein, putzen, versorgen die jüngeren Geschwister.

Eins ist aber sicher: Müssen diese Kinder die Bewältigungsstrategien nicht allein entwickeln, gehen sie deutlich stabiler und gesünder durchs Leben. „Das eine ist die genetische Veranlagung für eine psychische Erkrankung, das andere die Stärkung des seelischen Immunsystems“, ist Andrea Valdivia überzeugt. Sie ist eine von drei Frauen, die sich in Aachen um Kinder von psychisch erkrankten Eltern kümmern.

„Auch Kinder sind Angehörige“

Der Kinderschutzbund bietet unter dem Namen „Akisia“ (Abkürzung für „Auch Kinder sind Angehörige“) eine Gruppe für Kinder zwischen sechs und neun Jahren an. Seit vergangenem Sommer gibt es dort außerdem einen Jugendtreff für Jungen und Mädchen ab 13 Jahren. Eltern können die Beratungsstelle des Kinderschutzbundes oder seine Sprechstunde in den Psychiatrien des Alexianer-Krankenhauses oder des Klinikums aufsuchen. Die evangelische Kinder- und Jugendhilfe Aachen-Brand nimmt mit „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ (GZSZ) die Kinder zwischen acht und zwölf Jahren in den Blick.

Valdivia von Akisia und Denise Delonge, Leiterin des Akisia-Jugendtreffs, sowie Martina Reiners von GZSZ arbeiten gemäß der Altersstruktur ihrer Gruppenkinder unterschiedlich. Immer geht es aber darum, ein Bewusstsein für die eigenen Empfindungen, eine Wertschätzung der eigenen Gefühle, ein Verstehen der Krankheit ihrer Eltern und eine Sprache dafür zu finden.

Sehr oft bewegt sich das Thema psychische Erkrankung auch in betroffenen Familien wie in der Gesellschaft allgemein in einer Tabuzone. Kinder betroffener Eltern haben daher keine Worte für die Schizophrenie der Mutter oder die bipolare Störung des Vaters. „Allein den Austausch mit ebenfalls betroffenen Kindern erleben die Jungen und Mädchen als sehr bestärkend“, berichtet Reiners. „Faktoren, die sonst ziemlich sicher zu Hänseleien untereinander führen würden, werden so zur absoluten Nebensächlichkeit.“ Hinzu kommen zwei wichtige Erkenntnisse.

Erstens: Niemand muss heute mehr Angst vor einem Psychiatrie-Aufenthalt haben. Vor allem nicht, wenn vorher klar ist, wer die Versorgung des Nachwuchses übernimmt. Das erreichen Reiners und Valdivia durch einen Besuch ihrer Gruppen im Alexianer-Krankenhaus und durch die Erstellung eines persönlichen Notfallplans. Zweitens: Nicht nur der seelische Zustand des Vaters oder der Mutter ist wichtig, sondern auch der eigene. Deshalb lernen die Kinder, ihre eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu benennen. Aber auch wertzuschätzen, wenn etwas schön ist. „Viele sind es gewöhnt, nur über das Schlechte zu sprechen“, sagt Valdivia.

Obwohl bereits viele Kinder profitiert haben, obwohl Akisia und GZSZ trotz der unterschiedlichen Trägerschaften eng miteinander kooperieren, ist es nicht immer einfach, regelmäßig Gruppen zusammen zu bekommen. Der Kinderschutzbund kann notfalls spendenbasiert auch sehr kleine Gruppen starten lassen, die evangelische Kinder- und Jugendhilfe Aachen-Brand braucht mindestens sechs Kinder, deren Eltern zudem für die Finanzierung einen Antrag zur Hilfe zur Erziehung beim Jugendamt stellen müssen. „Wir begleiten das sehr eng, aber das ist natürlich eine Hürde“, findet Reiners.

Doch das allein erklärt noch nicht die schleppende Nachfrage gemessen an dem statistisch gesehen riesigen Bedarf. „Das liegt daran, dass viele betroffene Kinder sich möglichst unauffällig verhalten. Sie haben gute Noten und funktionieren. Das sind die unsichtbaren Kinder“, erklärt Reiners. Das zu erkennen sei für Fachkräfte in Schule, Kita und anderen Jugendeinrichtungen schwierig, der Wunsch nach Fortbildung immens, bestätigt Valdivia.

Aber sie glaubt auch: „Das Familiensystem braucht eine koordinierte Unterstützung von Jugendhilfe und Gesundheitshilfe. Aber diese beiden Akteure müssen anders als bei den ‚Frühen Hilfen‘ in diesem Feld nicht kooperieren. Kein Gesetz verpflichtet sie dazu. Deshalb hängt es immer an dem Engagement einzelner Personen.“