Projekt von Pro Familia : Schülerinnen und Schüler leben fünf Tage mit Babypuppe
Aachen Wie ist es, wenn man die Verantwortung für ein Baby trägt? Aachener Schülerinnen und Schüler haben bei einem besonderen Projekt von Pro Familia teilgenommen.
Vier Schülerinnen und Schüler der Vierten Aachener Gesamtschule quetschen sich mit Kinderwagen durch die Gänge der ProFamilia-Einrichtung. Hinter ihnen liegen fünf ereignisreiche – aber auch schlaflose – Tage und Nächte.
Die Neuntklässler sind seit zwei Monaten Teilnehmer einer Reihe von Workshops, die die Schule im Rahmen vom Landesjugendamt-Programm „Wertevermittlung“ gemeinsam mit Pro Familia durchführt. Darin geht es vor allem um Themen wie Gesundheit, Sicherheit oder Verhütung.
Ein Höhepunkt: Ein fünftägiges „Babybedenkzeitpraktikum“, in dem die Kinder jeweils eine Babypuppe erhielten. Diese ist durch einen Computerchip programmiert wie ein echtes Neugeborenes. Es hat die gleichen Bedürfnisse wie ein echtes Baby und wiegt genauso viel. Die Puppe hat Hunger, muss gewickelt werden, manchmal schreit sie einfach so – auch nachts. Damit nicht geschummelt werden kann, wurden die Schüler mit einem Chiparmband mit ihrem Baby vernetzt. „Das bedeutet, dass die Schüler jetzt die Bezugsperson der Puppe sind“, erklärt Ina Biermann, Sexualpädagogin bei Pro Familia.
„Als das Projekt startete, haben die Mädchen eine Geburtsurkunde erhalten und einen Vertrag unterschrieben, der sie verpflichtet hat, sich gut um ihre Babies zu kümmern“, sagt Gesine Münkel, ebenfalls Sexualpädagogin bei Pro Familia. Den Namen ihres Neugeborenen haben sich die Jugendlichen selbst aussuchen dürfen.
„Wir haben mit der Wabe zusammengearbeitet“, sagt Biermann. Beim Diakonischen Netzwerk hätten sich die Schülerinnen und Schüler kostenlos mit Decken, Klamotten und Kinderwagen für ihre Babies ausstatten können.
Und dann ging es auch schon los. Das Neugeborene war die ganze Zeit dabei: In der Schule, im Bus, im Supermarkt – und beim Schlafen. „Heute Nacht musste ich acht Mal aufstehen, um das Baby zu versorgen“, sagt Marlon. Der Vierzehnjährige wird seine Leihtochter, die er Jenny genannt hat, schmerzlich vermissen. Er macht sogar ein Erinnerungsfoto mit ihr.
Die Neuntklässler berichten von anfänglicher Überforderung. „Warum schreit das Baby jetzt, obwohl ich es gefüttert habe? Ich war zu Beginn sehr gestresst“, erzählt Natascha. Trotzdem gibt sie in der Reflektionsrunde zu, dass sie gerne länger Zeit mit dem Baby verbracht hätte. „Ich finde, mein Selbstvertrauen ist durch das Projekt gestärkt worden. Einmal wurde ich ausgelacht, aber ich habe viele neugierige Blicke bekommen und kam mit vielen fremden Menschen ins Gespräch“, sagt Lilli. Die Schüler erzählen vor allem von großem Rückhalt ihrer Eltern und Geschwister. „So ein Baby wird direkt zum Familienprojekt“, sagt Lara Esch, Sozialarbeiterin an der Schule.
Notfalltelefon für schwerwiegende Probleme
Damit die Neuntklässler nicht ganz auf sich gestellt sind, hatte Pro Familia ein Notfalltelefon eingerichtet. Dort konnten die Schüler bei schwerwiegenden Problemen anrufen. Darüber hinaus besuchten die Sexualpädagoginnen die Schüler auch daheim. „Wir haben aber auch eine Whatsapp-Gruppe gegründet“, sagt Ashley. Obwohl die vier jungen Menschen nicht in einer Klasse sind, hat sie das Projekt doch zusammengeschweißt. „Daran haben die Jugendlichen gesehen: Ich bin nicht alleine und die anderen sind in derselben Situation“, sagt Martin Spätling, Didaktischer Leiter der Vierten Aachener Gesamtschule.
Vor dem Projektstart letzte Woche schrieben die Kinder ihre Erwartungen und Befürchtungen auf. Viele davon haben sich bewahrheitet: „Ich habe schnell eine Bindung zu dem Baby aufgebaut“, sagt Natascha. Ihre Mitschüler stimmen zu.
Um die Jugendlichen fünf Tage später aus ihrer Elternzeit zu befreien, schneiden sie sich am Ende des Projekts den Armchip ab, der sie mit ihrer Puppe verbunden hat. „Jetzt habe ich gemischte Gefühle. Ich werde mein Baby schon ein bisschen vermissen“, sagt Lilli, „aber ich bin auch froh, dass ich jetzt endlich wieder in Ruhe schlafen kann.“