Studie : Nur jeder Dritte kommt noch zum Einkaufen nach Aachen
Interaktiv Aachen In der Studie „Vitale Innenstädte 2020“ sinken die Noten. Der boomende Online-Handel trifft die Aachener City härter als andere Städte. Woran liegt das?
Der Patient kränkelt. Tot ist die Stadt trotz Corona-Lockdowns noch nicht, aber eine Frischzellenkur scheint dringend erforderlich. Für die Studie „Vitale Innenstädte 2020“ hat das Kölner Institut für Handelsforschung (IFH) im vergangenen Herbst rund 58.000 Passanten in 107 deutschen Innenstädten befragt. Aachen kommt dabei im Vergleich der Städte zwischen 200.000 und 500.000 Einwohnern nicht über Mittelmaß hinaus, verliert bei der Attraktivität des Einzelhandels sogar an Boden. Die Gesamtnote für die City sinkt auf 2,6 – 0,4 weniger als 2018.
Besucher finden seltener zum Shopping in die Stadt, auch die Gastronomie gilt nicht als besonders anziehend – gefragt sind vielmehr Aufenthalts- und Erlebnisqualität. Dafür bevorzugen schon jetzt immer mehr City-Besucher das Fahrrad. Einkäufe verlagern sich – durch die Corona-Krise beschleunigt – immer mehr Richtung Online-Handel.
„Die Studie ist ein Weckruf, den wir sehr ernst nehmen müssen“, sagt Manfred Piana, Geschäftsführer des Märkte- und Aktionskreises City (MAC). Der MAC ist lokaler Partner der IFH-Studie. „Die Frequenzen sind rückläufig, es kommen weniger Kunden. Das kann man nicht nur auf Corona schieben. Wir müssen alle – Handel, Politik und Eigentümer – umgehend für attraktive Anziehungspunkte in der Stadt sorgen. Jüngere originell überzeugen, Ältere halten!“, sagt er. Denn befragt wurden im vergangenen September für die IFH-Studie nur Menschen, die tatsächlich noch den Weg in die City finden. Wie viele erst gar nicht mehr anreisen, weiß man nicht. Auf jeden Fall flauen Passantenströme selbst in Haupteinkaufsstraßen wie der Adalbertstraße seit Jahren erheblich ab.
Grenzlage ist Fluch und Vorteil
Aachen schneidet im bundesweiten Vergleich der Städte – auch aufgrund der Grenzlage und der hochschulbedingt jüngeren Bevölkerungsstruktur – durchaus speziell ab. Generell gilt bundesweit: Der Einzelhandelsumsatz steigt im Jahr 2020 zwar leicht auf 640 Milliarden Euro. Innerhalb von zehn Jahren verdoppelt der Online-Handel seinen Umsatzanteil auf fast 20 Prozent, wenn man die sogenannten „Fast Costumer Goods“ wie zum Beispiel Lebensmittel und Drogerieartikel aus den stationären Umsätzen herausrechnet. Besonders im Jahr 2020 zeige sich eine Kannibalisierung der Umsätze im stationären Handel durch Onlineumsätze, erklärt Nicolaus Sondermann vom IFH. Das gelte vor allem für innenstadtrelevante Sortimente – die Textil- und Schuhbranche leide extrem darunter.
Junge Kundschaft fehlt
Der klassische Einkaufsbummel ist nicht mehr für jeden das Hauptmotiv für den Besuch von Innenstädten. Dies gilt zwar noch für 65 Prozent der Über-50-Jährigen. Bei jüngeren Menschen unter 25 Jahren gibt nur die Hälfte an, zum Einkaufen in die Stadt zu kommen. Dafür sind Gastronomie oder Behörden-/ Arztgänge für Jüngere öfter ein Besuchsanlass. Für die Praxis bedeutet das: Ein Blick auf die Einwohnerstruktur und die speziellen Bedürfnisse der Zielgruppen vor Ort ist unerlässlich bei der Konzeption zukunftsfähiger Innenstadtmodelle. „Wir müssen jüngere Besucher wieder mit anziehenden Geschäftsmodellen überraschen, persönlich und erlebnisorientiert“, sagt Handelsexperte Piana. Es geht um Hybrid-Konzepte: stationärer Handel verknüpft mit Events und Online-Angeboten.
Gut 53 Prozent der Aachen-Besucher kommen von außerhalb, das ist deutlich mehr als in ähnlich großen Städten (41 Prozent). Da coronabedingt weniger Kundschaft aus Belgien und den Niederlanden nach Aachen kam, fällt das besonders ins Gewicht. Der typische Einzugsraum auf deutscher Seite reicht indes bis in den Selfkant, Hückelhoven, bis Jülich und Niederzier sowie Düren, Simmerath und Roetgen. Nur 34 Prozent der Befragten geben an, tatsächlich zum Einkaufen in die Innenstadt zu kommen. In Städten vergleichbarer Größe sind es fast 59 Prozent. Auch die Gastronomie (deren Qualität gut bewertet wird) geben nur knapp 13 Prozent als Hauptziel in Aachen an, anderswo sind es durchschnittlich 27,5 Prozent. Knapp 18 Prozent nennen als Besuchsgrund das Freizeit- und Kulturangebot sowie „Sightseeing“ – Top-Noten also für Festivals wie das Aachen September Special, den Weihnachtsmarkt, die historische Altstadt, Konzerte, Kino, Theater und Museen. Hier schneidet die Kaiserstadt rund zweieinhalb Prozentpunkte besser ab als andere. „Beliebterer“ Besuchsanlass ist mit 20 Prozent – so räumen die Befragten ein – allerdings der Behördengang oder Arztbesuch.
Mehr Fahrrad, weniger Auto
Bei der Wahl des Verkehrsmittels unterscheiden sich Aachener und Aachen-Besucher ebenfalls von der deutschen Durchschnittsstadt. Gut 32 Prozent kommen per Bus und Bahn – das liegt im Schnitt, liegt aber fast fünf Prozentpunkte unter dem Wert des Jahres 2018. Mit Pkw und Motorrad fahren aber nur 28,5 Prozent in die Innenstadt; das sind sechs Prozent weniger als bei der IFH-Umfrage 2018. In vergleichbaren Städten liegt der Auto-Anteil bei 38 Prozent, im Gesamtdurchschnitt der deutschen Städte bei 45 Prozent.
Wobei das Thema Parken die Schulnote „befriedigend“ kassiert – nicht schlechter als anderswo. Der Anteil der Fahrradfahrer unter den Innenstadtbesuchern hat sich von 2018 auf 2020 von 9 auf 15 Prozent erhöht – vier Prozentpunkte mehr als in ähnlich großen Städten. Im gleichen Zeitraum wuchs der Fußgängeranteil von 19 auf knapp 24 Prozent (Städte ähnlicher Größe: 17 Prozent). 21 Prozent kommen immerhin täglich. Allerdings verschiebt sich in Aachen der Anteil der Online-Shopper noch dramatischer als in anderen Städten. Die Frage, ob man seit 2020 im Internet häufiger als in der stationären Geschäftswelt auf Einkaufstour geht, bejahen in Aachen mit 31 Prozent zehn Prozent mehr Menschen als anderswo. 2018 waren es 19 Prozent. 52 Prozent der Befragten in Aachen befürworten eher eine Sonntagsöffnung von Geschäften – auch hier unterscheidet sich die Grenzstadt. Im Bundesschnitt votieren nur 26 Prozent für verkaufsoffene Sonntage. Die Schulnote „sehr gut“ für Attraktivität vergaben 2018 noch 18 Prozent der Studienteilnehmer der City, aktuell sind es nur 4,5 Prozent.
Aachen hinkt hinterher
43 Prozent der Befragten finden, dass die Innenstadt online gut vertreten und aufgestellt ist, in anderen Städten liegt dieser Wert laut IFH-Analyse im Schnitt bei 54,5 Prozent. „Zukunftsorientiert aufgestellt“ sehen Aachen sogar nur 33 Prozent – im Unterschied zu 56,5 Prozent in anderen Kommunen.
Die Corona-Krise trifft Aachen nach Ausagen der Vitalitätsstudie besonders hart: 35,6 der befragten geben an, deshalb verstärkt online einzukaufen (Bundesschnitt: 30 Prozent); 37 Prozent bevorzugen dabei große Online-Händler. Dennoch: 21 Prozent der Online-Shopper betonen, dass sie verstärkt bei lokalen Online-Händlern und Aachener Anbietern via Internet Ware bestellen – das sind immerhin knapp sechs Prozent mehr als im deutschlandweiten Schnitt der 107 untersuchten Städte. Jeder Zweite sagt, dass er die Aachener Innenstadt seit der Corona-Krise seltener besucht. Verbunden fühlt man sich dennoch mehr als anderswo: Fast 57 Prozent geben an, dass sie bewusst verstärkt lokal kaufen wollen (Bundesschnitt 45 Prozent). Dramatisch für die hiesige Geschäftswelt ist jedoch, dass 63 Prozent weniger Geld für Waren und Dienstleistungen ausgeben als vor der Corona-Krise – wohlgemerkt im September vor dem zweiten Lockdown Ende des Jahres. Im Städtevergleich geben dies nur gut 45 Prozent an.
Neue Erlebniswelt schaffen
„Die Menschen mögen Aachen, das unterstreicht die Studie. Wir müssen nun sehr zielgruppenorientiert für mehr Zulauf sorgen. Erlebnisse sind gefragt – da sind wir mit dem Weihnachtsmarkt und dem September Special genau richtig aufgestellt. Das untermauert die Befragung, das ist gewollt“, sagt Piana. Gleichwohl müsse die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt dringend gesteigert werden, damit sich – nach der Coronavirus-Krise – Menschen wieder gerne im Zentrum aufhalten und treffen, erklärt er. Über ein paar neue Parkbänke geht das hinaus.
Der Ruf nach einer neuen Erlebniswelt schließe den Handel mit ein, auch der müsse smarte Angebote forcieren, erklärt der MAC-Geschäftsführer. Dass nur jeder Dritte in die Aachener Innenstadt komme, um hier einzukaufen, und der Attraktivitätswert gerade auf die Schulnote „befriedigend“ gesunken sei, dürfe man nicht hinnehmen. Zumal etliche Geschäfte die Corona-Krise nicht überleben könnten. Noch mehr Leerstände seien kaum verkraftbar. Piana fordert deshalb gemeinsame Anstrengungen der Stadt, des Handels und der Immobilienbesitzer – sonst drohe die Revitalisierung der Innenstadt mit ihren Langzeitbaustellen Büchel, Adalbertstraße, Dahmengraben und Bushof zu scheitern. Investitionen in hoher Dosierung wären nötig. Doch noch sei der Patient zu retten.
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