Rückblick : Unsere Themen des Jahres 2020
Special Aachen Die Lokalredaktion blickt auf das Jahr 2020 zurück und hat ihre ganz persönlichen schönsten, wichtigsten oder bemerkenswertesten Momente und Entwicklungen aufgeschrieben.
Veränderung der Debattenkultur | Sarah-Lena Gombert
„Wir streiten uns hier manchmal wie die Kesselflicker, aber wir achten darauf, dass wir uns nach einer Sitzung immer noch auf ein Bier zusammensetzen können.“ Als ich mich vor Jahren zum ersten Mal mit der Berichterstattung über Kommunalpolitik beschäftigt habe, ist dieser Satz eines gewählten Volksvertreters bei mir hängen geblieben. Denn er sagt viel darüber aus, wie der politische Diskurs in einer demokratischen Gesellschaft eigentlich sein sollte: gerne hart in der Sache, aber niemals ohne den nötigen Respekt vor dem Gesprächspartner.
Schließlich – zumindest will ich das als Optimistin unterstellen – wollen doch alle Beteiligten das Beste für ihre Stadt und sollten dementsprechend an einem Austausch von Argumenten ehrliches Interesse haben. Man konnte aber in diesem Jahr schnell den Eindruck gewinnen, dass das nicht immer so ist. Wer lauter brüllt, gewinnt – das scheint für einige in Aachen zum neuen Motto geworden zu sein. Und was noch viel bedauerlicher ist: Politikerinnen und Politiker lassen sich von diesen Zeitgenossen, die zwar über ein lautes Organ, aber schwache Argumente verfügen, vor sich her treiben.
Gerade in den sogenannten Sozialen Netzwerken ist das ein zunehmendes Problem. Das ist vor allem deshalb so schade, weil wir in dieser Stadt ehrlich und respektvoll geführte Diskussionen über ganz grundsätzliche Themen brauchen. Aachens Bevölkerung wächst. Damit wächst auch die Zahl unterschiedlicher Interessen. Von Alteingesessenen und Zugezogenen. Von Jungen und Alten. Von Familien und Singles. Von Vertretern verschiedener Kulturen und Religionen. Von denen, die es ruhig mögen, und denen, die gerne feiern und auf den Putz hauen.
Kurzum: Es wird bunter und komplizierter. Und umso wichtiger, dass man sich gegenseitig zuhört, Empathie mitbringt und gemeinsam an Kompromissen arbeitet. Das kann gern in leidenschaftlichen Diskussionen passieren. Aber am Ende sollte man sich immer noch auf ein Bier zusammensetzen können.
Es war einmal ... | Stephan Mohne
Es war einmal ein reicher Geschäftsmann namens Conti Nental. Er brachte viele schöne Sachen unter die Leute. Zum Beispiel Autoreifen. Millionen um Millionen verkaufte er und Verdiente sich Jahr für Jahr eine goldene Nase damit. Seine Angestellten bauten sie für ihn. So in der schönen Stadt Aachen.
1800 Menschen standen da für ihn in Lohn und Brot, das Werk nährte sie und ihre Familien gut. Und vor allem den Herrn Conti Nental, der selbst 350 Kilometer weit entfernt in seinem Zuhause die Kassen des Werks laut klingeln hörte. Seine Mitarbeiter arbeiteten jahrelang viel und hart und mehr, als sie eigentlich mussten – ohne dafür mehr Geld zu bekommen, aber mit dem Versprechen der sicheren Arbeit. Der Geschäftsmann fuhr die Millionen mit der Schubkarre aus dem Werk.
Doch eines Tages reichte ihm das nicht mehr. In fernen Ländern konnte er noch mehr Geld scheffeln, weil er den Leuten da weniger Lohn zahlen musste. Also senkte er den Daumen über das Werk in der Heimat und sagte den 1800 Menschen, die nun vor dem Nichts standen, es gebe eben einfach zu viele Autoreifen.
Seine Arbeiter weinten und waren verzweifelt. Und sie kämpften, doch es war vergebens. Aus, vorbei, das Werk war zu. Herr Conti Nental seinerseits verdiente anderswo noch sehr lange sehr gut und sehr viel und machte damit auch jene glücklich, denen er Anteile an seinem Geschäft verkauft hatte.
Und wenn er nicht gestorben ist, dann mag er sich (hoffentlich) noch heute schämen.
Aus Schwarz wird Grün | Gerald Eimer
„Es ist jetzt einfach Zeit für eine Frau.“ So lapidar, so klar unterstrich Sibylle Keupen im Wahlkampf ihren Anspruch auf den Spitzenposten der Stadt, der seit der Zeit Karls des Großen ausnahmslos männlich besetzt war. Ihre Wahl zur Oberbürgermeisterin Ende September kann man also historisch nennen, und die Aachener können in diesem Jahr sagen: „Wir sind dabei gewesen.“
Mit Keupens ebenso überraschendem wie fulminantem Erfolg hatten sicher die wenigsten gerechnet. Als eine Umfrage wenige Wochen zuvor die Sensation wahrscheinlich erscheinen ließ, fühlten sich Freunde und Feinde noch wie im falschen Film. Die Grünen stärkste Kraft. Der CDU-Spitzenkandidat Harald Baal demontiert. Seine Fraktion halbiert, die Partei am Boden. Und das alles in der Heimatstadt des Mannes, der sich aufmacht, Deutschlands letzte Volkspartei zu führen und ins Bundeskanzleramt einzuziehen!
Dass im einst so tiefschwarzen Aachen ausgerechnet eine parteilose Grünen-Kandidatin – noch dazu eine Seiteneinsteigern, die politisch bis dahin nicht nennenswert in Erscheinung getreten ist – die Aachener Christdemokraten ins tiefe Tal der Tränen stürzen lassen könnte, schien bis dahin unvorstellbar. Nun ist es passiert, und das größte Dilemma ist wohl, dass Wähler und Gewählte sich bis heute nicht richtig näherkommen konnten. Kein Kennenlernen, kaum öffentliche Auftritte, nichts zum Warmwerden. Es ist jetzt einfach Zeit, dass dieses mistige Virus wieder verschwindet.
Ausgewildert | Margot Gasper
Wie geht es ihm wohl? Kommt er klar, wo er jetzt wohnt? Ist er satt geworden? Hat er Anschluss gefunden? Und hat er es geschafft, sich vor seinen Feinden in Sicherheit zu bringen? Die ersten Greifvögel hielten ja schon erwartungsvoll Ausschau, als Feldhamster Nummer 20192 Ende August auf einem Acker bei Horbach seinen Bau bezog. Auf dem Tier und seinen 23 Artgenossen, die mit ihm zusammen aus einer Aufzuchtstation im Kreis Steinfurt nach Aachen umgesiedelt wurden, ruhen große Hoffnungen. Denn der Feldhamster, Cricetus cricetus, ist mittlerweile weltweit vom Aussterben bedroht.
Seit 2018 versucht der Aachener Naturschutzbund (Nabu) gemeinsam mit Partnern, den Nager in der Horbacher Börde wieder anzusiedeln. Es ist ein mühsames Geschäft. In den vergangenen Jahren vermehrten sich die Tierchen zwar, nach dem Winter waren aber jeweils nur noch wenige Exemplare vorhanden. Diesen Schluss lassen jedenfalls Erhebungen und Aufnahmen mit der Wildtierkamera zu. Deshalb gab es im vergangenen Sommer erstmals eine Spätauswilderung. Schon vor ihrem Winterschlaf sollten sich die kleinen Nager in der Horbacher Börde eingewöhnen, dann im Frühjahr zügig auf Partnersuche gehen und sich vermehren.
Große Erwartungen lasten also auf Feldhamster 20192. Es war ein herrlicher Sommertag, als er seinen neuen Bau bezog. Es war ein kleines optimistisches Signal in dem Jahr, als die Corona-Pandemie die Welt in die Katastrophe stürzte und vertrocknete Bäume als stumme Zeugen der Klimakatastrophe am Straßenrand standen. Ob Hoffnung besteht für Feldhamster 20192 und die anderen 23 Artgenossen? Vielleicht wissen wir im Frühjahr mehr.
Die ausgefallene Session | Holger Richter
Am Aschermittwoch ist bekanntlich alles vorbei. Am 26. Februar 2020 galt das umso mehr – ohne dass die Öcher Jecken das zu diesem Zeitpunkt allerdings ahnten. Drei Tage zuvor hatten die kleinen Karnevalisten beim Umzug des Märchenprinzen auf verkürzter Strecke durch die Stadt noch Sturm und Regen getrotzt, tags drauf jubelten 220.000 Menschen beim Rosenmontagszug Prinz Martin I. zu, der einen weiteren Tag später im Theater verabschiedet wurde. Quasi zeitgleich meldete unsere Zeitung die ersten beiden Corona-Fälle in Erkelenz. Und dann wurde alles anders.
Schon bei der Prinzenvorstellung von Martins Nachfolger Guido Bettenhausen exakt 72 Tage nach Aschermittwoch am 8. Mai war klar, dass ihm und den Öcher Jecken eine schwierige Session bevorstehen würde. Abstandsregeln und Personenbegrenzungen würden einen typischen Fastelovvend unmöglich machen. Also machten sich der designierte Prinz samt Hofstaat und Prinzengarde, AKV und AAK auf die Suche nach neuen - coronagerechten – Ideen für den Karneval.
Viele Mitstreiter hatten sie dabei allerdings nicht. Im Laufe des Jahres sagten immer mehr Vereine ihre Veranstaltungen „schweren Herzens“ ab, bevor dann auch Festausschuss und AKV zu Beginn der zweiten Coronavirus-Welle am 19. Oktober die Reißleine zogen: keine Prinzenproklamation, keine Ordensverleihung, keine Karnevalszüge und der Prinz bekommt eine Doppelsession. So startete am 11. im 11. in Aachen keine Session und ein Oche Alaaf gab es an diesem Tag nur virtuell – im Internet.