“Judas“ tourt durch die Region : Die Ikone des Verrats
Aachen „Judas“ berührt die Menschen beim Auftakt von „Grenzlandtheater-Xtra“ in St. Gregorius Aachen. Was die Geschichte mit uns heute zu tun hat.
Die Menschen gehen nach diesen 75 Minuten tief bewegt nach Hause, die einen sind stumm, haben Tränen in den Augen, die anderen diskutieren verunsichert miteinander, denn sie stellen fest: Das hat mit uns zu tun – auch nach 2000 Jahren. Mit dem Stück „Judas“ der niederländischen Autorin Lot Vekemans (Jahrgang 1965) unternimmt das Grenzlandtheater Aachen in seiner Reihe „Xtra“ eine anspruchsvolle Tour durch zwölf Kirchen.
Premiere hatte das Stück in der Regie von Intendant Ingmar Otto an einem markanten Ort – der Kirche St. Gregorius in Aachen-Burtscheid, ein Bau, der in seiner elliptischen Bauweise an ein großes Schiff erinnert und mit Kreuz und Madonna des Künstlers Ewald Mataré besondere Ausstrahlung hat.
Das Werk – ein Monolog – findet an unterschiedlichen Orten von Aachen über Stolberg, Monschau-Imgenbroich, Jülich, Eschweiler-Dürwiß, Kerpen-Brüggen, Baesweiler-Setterich, Roetgen und Alsdorf immer neue Bühnen, auf denen sich mit Schauspieler Felix Frenken (44) ein magisches Kaleidoskop tiefgründiger Lebensfragen entfaltet.
Starke Körpersprache
Er ist ein Darsteller mit Ausstrahlung und starker Körpersprache, der das Publikum vom ersten Augenblick an bannt. Als man noch gar nicht weiß, ob es nun losgeht oder nicht, eilt er durch den Raum, entzündet Kerzen, läuft zur Tür: „Kommt noch jemand?“ Er schaut in die kalte Nacht, geht zurück, ein bisschen kumpelhaft. Witzchen hier, verlegenes Lachen da. Das täuscht.
Rasch sind alle neugierig und konzentrieren sich auf den Mann, der schlimmste Ächtung erfahren hat – als Jünger Jesu, als derjenige, der seinen Meister mit dem Kuss im Garten Gethsemane den Wachen verraten hat. Dieser Judas, dessen Name erst zum Schluss ausgesprochen wird, berichtet, was man nie hören wollte: Wie ging es ihm in der Schar der zwölf Apostel, im Kontakt mit Jesus, in Not und Schuld?
In seiner Regie führt Otto den Darsteller an Grenzen, lässt die aufgestauten Gefühle explodieren, entwirft gleichzeitig das Bild eines Mannes, der Glauben, Visionen und große Liebe in sich trug und doch zur Ikone des Verrats wurde: „Ich bin alle Schuld geworden, ich habe das zugelassen, aber jetzt reicht‘s“ lässt die Autorin ihren Judas schluchzen, der sich wie ein Embryo unter dem Altar zusammenrollt und das weiße Tuch wie ein Grabtuch über sich zieht. Ein atemberaubender Moment.
Da ist es im Kirchenraum sehr still, kein Huster, nichts. Die Menschen sind erschüttert. Und plötzlich schaltet Frenken wieder auf Gegenwart. „Möchten jemand etwas beichten?“, ruft er und spricht von Reue, von Entscheidungen, die schlimme Folgen haben können, heute wie damals.
Das Stück zieht die Menschen hinein in das Geschehen, da wird es unbehaglich. „Wenn ich die Geschichte zurückdrehen könnte – würden Sie das dann wollen?“ Frenken bringt diesen Judas mit großer Kraft auf den Punkt. Otto gibt ihm Ruhemomente, ein Weihrauchgefäß duftet nach Heiligkeit, ein Kerzengestell wird zum Leuchtobjekt, das sich als Rahmen aufbauen lässt. Anspielung auf die Bilder von Heiligen – nicht für einen Judas. Der in Blautöne getauchte Raum mit langen Schatten wird zum Katalysator für Gedanken, die tief vergraben sind. Judas spricht sie aus, nach 2000 Jahren, in denen er und sein stolzer Name zum Synonym für Verrat wurden: „Ich bin Judas Iskarioth!“ Es bleibt die bohrende Frage mit Blick zum Himmel: „Hat er mir verziehen?“
Ein großer Abend mit schauspielerischer Höchstleistung in einfühlsamer, zugleich straffer Regie, viel Applaus.