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Wie wirken Krimis?: „Über Menschen, nicht über Monster schreiben“

Wie wirken Krimis? : „Über Menschen, nicht über Monster schreiben“

Fast jeder zweite Mensch in Deutschland liest jedes Jahr mindestens einen Krimi. Jeden Tag können wir Ermittlern im Fernsehen beim Fällelösen zuschauen. Doch was macht das mit uns, fragt das Autorenkollektiv Syndikat während der Criminale in Aachen. Krimis können Ängsten ein Gesicht geben, sagt eine Kulturwissenschaftlerin. Aber nur, wenn sie menschlich bleiben, sagen Autoren.

Ein Viertel seines Umsatzes macht der Buchhandel hierzulande mit Büchern über Mord und Totschlag. Wer möchte, muss keinen Tag ohne Fernsehkrimi verbringen und kann sonntagabends mit anderen Aufklärungswütigen in einer prallgefüllten Kneipe den Ermittlern im „Tatort“ bei der Arbeit zuschauen. Üblicherweise wird etwa nach der Hälfte der Sendezeit getippt, wer der Mörder ist. Wichtig ist uns also: das Rätsel. Doch was macht der Krimi mit uns, dass wir Lust haben, uns mit den Kommissaren immer wieder in die Auflösung schockierender, bedrückender oder skurriler Verbrechen zu stürzen?

Was zieht der Konsument aus dem Krimi – außer ein paar Stunden Alltagsflucht? „Kann der Krimi heilen?“ Diese Frage haben sich Autoren des Kollektivs Syndikat anlässlich des Festivals Criminale in Aachen gestellt. Ihre Antwort: Ja, manchmal. Wenn er menschlich bleibt, sich nicht in Gewaltverherrlichung verliert und Haltung bezieht. „Wenn man das Genre ernst nimmt, kann der Krimi die Gesellschaft reparieren“, sagt Simone Buchholz, die unter anderem die Hamburg-Krimi-Reihe um Ermittlerin Chastity Riley („Mexikoring“, „Blaue Nacht“) geschrieben hat.

Das Spiel mit der Angst

„Im weitesten Sinne kann der Krimi etwas Therapeutisches haben“, sagt auch Dorothee Kimmich. Sie ist Professorin für Literaturwissenschaftliche Kulturwissenschaft und Kulturtheorie an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. „Menschen haben diffuse Ängste, die der Krimi ausbuchstabiert. Immer, wenn man etwas klar formuliert, bekommt die Angst ein Gesicht; und das ist besser, als wenn sie diffus bleibt“, sagt sie.

Die Gründe für die Lust am Lesen über das Morden sind vielfältig: Der Krimi ist spannend. Er lässt uns für eine begrenzte Zeit schaudern. Er zeigt Kommissare oder Detektive, die oft gebrochen sind, einen spezifischen Hang zum Melancholischen haben, oft Versager in ihrem Privatleben sind. Das bietet jedem Zuschauer Anknüpfungspunkte. Der Krimi kann Milieustudien bieten und ein psychologisches Interesse bedienen: „Wer ist der Täter? Was hat ihn zum Verbrecher gemacht?“ Der Krimi kann Erinnerungskultur betreiben, historische Verbrechen aufarbeiten und den Zeitgeist beschreiben: Wovor haben die Leute Angst? Was bringt sie dazu, Verbrechen zu begehen? Welche Mittel stehen Tätern bei ihrer Tat und Ermittlern bei der Aufklärung zur Verfügung?

Krimis beziehen politische Aspekte ein: die Globalisierung von Verbrechen, die Macht großer Drogenkartelle, wie Regierungen interagieren. Und sie versetzen uns an Orte, die wir aus unserem Alltag oder dem Urlaub kennen und lassen an diesen bekannten, für uns scheinbar sicheren Orten grauenhafte Dinge passieren.

Krimis aus Ostfriesland zum Beispiel gibt es wie Sand in den Dünen, und auch beim „Tatort“ müssen sich die Zuschauer nicht mehr nur mit malerischen Bildern aus Münster oder München begnügen, sondern können ihren Heimatort auch als Schauplatz des Verbrechens bewundern, wenn sie in Weimar oder Wiesbaden wohnen. „Keine Literatur ist so wirklichkeitsträchtig wie die Kriminalliteratur“, sagt Klaus-Peter Wolf, Autor einer sehr erfolgreichen Ostfrieslandkrimi-Reihe. In einer bekannten, realen Umgebung finden fiktive Verbrechen statt. „Das könnte hier wirklich so passiert sein“ mache den Reiz vieler Krimis aus.

Doch kann es Ängste nicht auch schüren, wenn man sich ständig mit Verbrechen, mit menschlichen Abgründen beschäftigt? Der Mörder ist nicht mehr nur der Böse, sondern mehrschichtig, hat mitunter nachvollziehbare Motive; er könnte ein Nachbar sein. „Natürlich gibt es viele Krimis, die bei manchen Menschen eine vorhandene Ängstlichkeit schüren und eine weltverzerrende Wirkung haben können“, räumt Dorothee Kimmich ein. „Aber bei den meisten geübten Leserinnen und Lesern kommt es dazu meiner Meinung nach nicht.“ Entscheidend ist, verantwortungsvoll mit Gewalt umzugehen, ist der Tenor auf dem Criminale-Podium im Alten Kurhaus in der Aachener Innenstadt.

„Nicht alles, was geschrieben werden kann, muss auch geschrieben werden“, betont Autorin Tatjana Kruse, die unter anderem die Reihe um Ermittler Siegfried Seifferheld geschrieben hat. Wenn über zehn Seiten beschrieben werde, wie der Mörder dem Opfer Bauschaum in alle Körperöffnungen füllt, bis es kläglich verendet, werde der Autor seiner Pflicht nicht gerecht, stimmt Simone Buchholz zu. Das Schreiben über Gewalt normalisiere sie, mache sie zugänglicher, nahbarer. Heilsam könne der Krimi nur sein, wenn er sich nicht in immer brutaleren Gewaltexzessen austobe, sondern die Realität abbilde, zeige, dass Gewalt meist unter Männern oder in Partnerschaften passiert.

„Ich habe schon das Anliegen, möglichst beunruhigend zu schreiben, den Blick in Abgründe freizugeben“, sagt Buchholz. Sie habe das Gefühl, die Werte unserer Gesellschaft seien gerade in der letzten Zeit massiv bedroht. „Deshalb ist es unsere verdammte Pflicht, das Maul aufzureißen und für die zu sprechen, die nicht gehört werden“, sagt sie. Dazu müssten Risse in der Gesellschaft drastisch aufgezeigt werden. Nur so könnten sie repariert werden. Man dürfe nie vergessen, dass es um Menschen gehe, fügt Autor Raoul Biltgen („Schmidt ist tot“) hinzu. „So muss man auch über sie schreiben. Wenn wir dagegen über Monster schreiben, kann es nicht mehr heilend sein.“

„Der Leser hat ein Bedürfnis nach Auflösung und Gerechtigkeit“, sagt Biltgen. Ist es also vielleicht auch eine kathartische Erleichterung, die den Krimi so beliebt macht? Dafür differenzierten die meisten Leute zu stark zwischen Realität und Fiktion, meint Kulturwissenschaftlerin Kimmich. „Dass das positive Ende für Menschen, die in einer angstgebeutelten Zeit leben, eine Entlastung sein soll, halte ich nicht für plausibel“, sagt sie. Wie stark Angst im privaten Leben eine Rolle spiele, sei ohnehin schwer zu messen. Der Literatur wohne aber schon die Funktion inne, Unterhaltung mit einer bestimmten Form der Selbstreflexion zu verbinden. „Wenn das Verhalten einer literarischen Figur den Leser dazu bringt, über sich selbst nachzudenken“, sagt auch Biltgen auf dem Aachener Podium, „dann sind wir beim Heilen.“

Mehr Anerkennung?

Der Diskussion um die Wirkung des Krimis käme es zugute, wenn das Genre als vollwertige literarische Belletristik anerkannt würde, meint Kimmich, die ihre Poetik-Dozentur im Wintersemester 2017/18 dem Kriminalroman widmete. In der Amerikanistik und Anglistik spiele der Krimi bereits eine Rolle. In der deutschen Literaturwissenschaft sei jedoch Luft nach oben. „Wir sollten uns mehr damit beschäftigen“, sagt Kimmich. Was die Literaturkritik angehe, gebe es ähnlich viel Nachholbedarf. „Krimiautoren werden grundsätzlich kaum als belletristische Autoren wahrgenommen, außer vielleicht jene, die auch noch andere Texte schreiben – und selbst die bekommen kaum einen Fuß auf den Boden.“

Die Krimifans interessiert das unterdessen offenbar herzlich wenig – sie wollen einfach nur wissen, wer der Mörder ist.

Infos zu den heutigen Veranstaltungen der Criminale und Ticketreservierungen unter die-criminale.de