„L‘orontea“ Aachen : Drei Ketten und ein Happy End
Aachen Antonio Cestis fast 400 Jahre alte Opernrarität „L‘Orontea“ inszeniert Ludger Engels am Theater Aachen in souveräner Zeichenhaftigkeit. Die Musik sucht und findet große Nähe zum barocken Originalklang.
Sagen wir mal so: Verglichen mit einer Karnevalssitzung braucht sich Antonio Cestis 1656 im Karneval von Innsbruck uraufgeführtes Dramma musicale „L’Orontea“ nicht zu verstecken. Mit gut drei Stunden Dauer ist hier wie da eine gehörige Dröhnung Unterhaltung angesagt, und die Pointendichte dieser vielleicht ersten Komischen Oper der Musikgeschichte ist nicht zu verachten. Klar, Klatschmarsch und so ist nicht, dafür aber reichlich Humor. Und wenn man nach dem Theaterbesuch auch nicht volltrunken nach Hause torkelt, so doch geradezu angenehm beschwipst von so viel subtiler Kurzweil.
In der letzten Spielzeit des verdienten Intendanten Michael Schmitz-Aufterbeck geht es am Theater Aachen in der Sparte Musiktheater äußerst anspruchsvoll zu. Cestis „L‘Orontea“ ist wieder eine ausgemachte Rarität. Auch deshalb hatte ein Coronavirus-Ausbruch im Ensemble zur Folge, dass die für vor zwei Wochen angekündigte Premiere nebst der ersten Folgevorstellung abgesagt werden mussten, weil keine Ersatzsänger aufzutreiben waren. Sowas hat kein Theater gern, weil es nicht nur mit Einnahmeausfällen, sondern mit einer Menge Umdisponierungen verbunden ist. Aber dass jetzt am Karnevalsfreitag ein aus treuen Abonnenten und üblichen Premierengästen gemischtes Publikum im – nicht ganz ausverkauften – Saal zusammensaß, tat der Feierstimmung keinen Abbruch. Die Beifallsbekundungen am Schluss waren so unaufgesetzt einhellig wohlgesonnen wie fein abgestuft.
Auch mit der Wahl von Regisseur Ludger Engels (er konnte ebenso wie Bühnenbildner Ric Schachtebeck und Kostümbildner Raphael Jacobs die Premiere wegen Corona nicht miterleben) als Hauptverantwortlichen für die Inszenierung eines der Alleinstellungsmerkmale des Theater Aachen: dem „Akzent Barock!“, weist das Haus auf die positive Entwicklung in der Ägide Schmitz-Aufterbeck, die ja Engels lange Jahre mitverantwortete. Mit den Jahren hat er einen Stil entwickelt, in die gerade im Musiktheater gängigen angestaubten und kruden Handlungsverläufe Bedeutungsebenen einzuziehen, die es erlauben, Theater mit aktueller Relevanz zu erzählen. Da ist der Barock ideal.
„L’Orontea“ ist da eine große, spannende Herausforderung. Erzählt wird eine Geschichte am Hof von Ägypten, wo Königin Orontea ziemlich kalt von der Liebe erwischt wird, als der schöne Maler Alidoro auftaucht. Einerseits wäre eine Verbindung nicht standesgemäß, andererseits sind so ziemlich alle am Hof in den Mann verknallt. Eifersucht, Intrigen, Machtspielchen in der Welt der Herrscher, Höflinge und Diener, die ihrerseits alle irgendwie noch eigene Krösken laufen haben. Das alles ist dann auch noch eingerahmt vom Idealischen, indem Ratio (Filosofia) und Libido (Amore) wetten, wer auf der Welt den größten Einfluss habe. Das Happy End zeichnet sich früh ab, bricht aber derart mit dem Holzhammer in Gestalt von drei Halsketten in die letzten zehn Minuten der Oper herein, dass auch das schon wieder lustig ist.
Denn in dem großen Thema, was denn die Liebe sei in einer Welt, in der Freiheit und Konvention, Gier und Selbstlosigkeit, Angst und Lust einander gegenüberstehen, porträtiert Cesti Menschen wie du und ich. Engels vermeidet jedwede Statussymbole, seine Personen agieren in farbcodierten Garderoben weitgehend ohne eine binäre Geschlechtszuweisung in einem Raum, der durch Leere vor einer glänzenden Blechwand als begrenzt und reflexiv gekennzeichnet ist. Die Illusionsfabrik Theater ist mit herbeigebrachtem Ventilator, einem aus dem Schnürboden schwebenden Nebelkasten bloßgesellt, eine Treppe ins Publikum bleibt weitgehend leer. Skurril wird’s mit einer Waschmaschine. Fast jede der kurzen, ständig Ort und Personal wechselnden Szenen ist spannend, vieles äußerst lustig. Und getragen von einer Musik, die ihren Charme aus der Vielfalt schöpft.
Christopher Bucknall, der für diese Produktion als Spezialist für historische Aufführungspraxis nach Aachen gekommen ist, gebietet vom Cembalo aus über eine Zwölf-Personen-Band, die mit Barocktrompeten, Blockflöten, Langhalslaute, Barockharfe, Orgel, Gitarre, Gambe, Schlagwerk und Streichern farbenreich besetzt ist. Die meisten Musikerinnen und Musiker stammen aus dem Sinfonieorchester Aachen, haben sich auf Theater-eigenen historischen Instrumenten zu Barockspezialisten entwickelt. In diesen „Akzent Barock!“ sind erhebliche Fördergelder vom Land geflossen, die sich immer mehr hörbar machen.
Das Orchester musiziert unglaublich durchsichtig, pointiert, phrasiert kreativ, quick, wie improvisiert. Cestis Musik, die unentwegt Formen, Tonarten, Takte wechselt, klingt ungemein lebendig. Die Sängerinnen und Sänger haben wahnsinnig viel Text in den Rezitativen, die Arien sind durchweg kurz und intensiv. Sehr gekonnt wirkt das Zusammentreffen von Spezialisten und Ensemblemitgliedern.
Fanny Lustaud ist eine wandlungsfähige, sehr präsente Orontea, Countertenor Thomas Scott-Cowell bleibt das Charisma des schönen Alidoro schuldig, seine Stimme führt er tadellos. Ein auch gesanglich faszinierendes Paar geben Yewon Kim und der sanfte Altus Léo Fernique als Silandra und Corindo ab. Patricio Arroyo stellt auf silbernen Plateausohlen und mit wunderbaren, bisweilen spanisch inspirierten Tenor-Tönen Aristea dar. Eva Diederix ist eine glänzende Amore, Juliana Curcio, stimmlich ebenbürtig, als Filosofia aber hoffnungslos unterlegen.
Im zweiten Teil des langen Abends verschiebt Engels die bis dahin eindeutigen Rollenzuweisungen hin zu einer die Grenzen zwischen Funktionen und Geschlechtern verwischenden neuen Ordnung. Dabei leistet Sreten Manojlovic als Säufer Gelone, eigentlich eine Bass-Partie, mit Ausflügen in eine Mixtur aus Tenor und Falsett Erstaunliches. Das Ende ist dann so happy, dass Filosofia und Amore mit den abgelegten Klamotten allein zurückbleiben.