Aachen : Strafverteidiger fordern den Ausbau von Therapieangeboten
Aachen „Für uns als Einzelkämpfer ist der Strafverteidigertag eine Standortbestimmung, um gemeinsame Positionen zu finden und Forderungen zu formulieren”, erklärte Jasper von Schlieffen, Geschäftsführer der Strafverteidigervereinigungen. Mit der Veranstaltung in Aachen zeigte sich der Berliner Rechtsanwalt überaus zufrieden.
Eine von der Bundesregierung im Jahr 2003 in Auftrag gegebene Untersuchung hat ergeben, dass Straftäter bei vorheriger Lockerung der Vollzugsbedingungen durch Freigang oder Aussetzung der Reststrafe auf Bewährung deutlich seltener rückfällig werden als beim vollständigen Verbüßen der Strafe.
„Wegsperren bis zum letzten Tag nutzt nichts, da der Täter nicht erprobt ist für das Leben außerhalb des Gefängnisses”, erklärt Rechtsanwalt Thomas Scherzberg, Leiter einer der insgesamt sechs Arbeitsgruppen. Statt in immer neue Haftplätze zu investieren, fordern die Strafverteidiger den Ausbau von Therapieangeboten sowie Nachsorgemöglichkeiten und Betreuung zur Unterstützung vorzeitiger Haftentlassungen.
Eine Verfahrenssteuerung durch außerjustizielle Institutionen lehnen die Strafrechtler ab. Am Beispiel des „al-Motassadeq”-Verfahrens, in dem ein potenzieller Entlastungszeuge des Angeklagten von den USA gesperrt worden war, fordern die Experten, dass in einem solchen Fall im Ergebnis nach dem Zweifelssatz ein Freispruch erfolgen müsse. „Die vom Bundesgerichtshof in diesem Fallgeforderte besonders sorgfältige Beweiswürdigung ist als Lösung unzulänglich”, machte von Schlieffen deutlich, zumal über eine nach geltendem Recht zulässige Videovernehmung des Zeugen nachgedacht werden müsse.
Auch zum Folterfall um den Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei, Wolfgang Daschner, vertreten die Strafverteidiger eine klare Position: Folter verletzt die Würde des Menschen. Für eine Rettungs- oder Präventionsfolter ist weder im Strafprozess- noch im Polizeirecht Raum. Das Verfahren gegen Wolfgang Daschner hatte dazu Anlass gegeben, über den Tatbestand der Aussageerpressung nachzudenken.
Vor dem Hintergrund eines „Europäischen Sicherheitsstaates” vertreten die Juristen die Auffassung, dass das unbezweifelbare Recht auf Sicherheit nicht zu dem Zweck eingesetzt werden dürfe, das Recht des einzelnen auf Freiheit einzuschränken. „Gerade im Bereich der hektischen Rechtssetzungsaktivität aus Brüssel ist ein eklatantes Demokratiedefizit zu beklagen”, so von Schlieffen.
Die nationalen Parlamente seien angehalten, eine europäische „Richtlinienlawine” umzusetzen, wobei bestehende Systemdifferenzen in den einzelnen Rechtsordnungen verdeckt würden. „Viel zu oft verpflichtet man sich auf den niedrigsten Rechtsstandard”, beklagt von Schlieffen. Der neue Europäische Haftbefehl etwa kann unter Wegfall der bisher erforderlichen beiderseitigen Strafbarkeit auch in einem Land vollstreckt werden, das eine Strafbarkeit der dem Beschuldigten vorgeworfenen Tat gar nicht vorsieht.
Als Verteidiger der Menschen- und Bürgerrechte gegenüber dem Staat wollen die Anwälte ihre Pflicht, gesetzgeberischen Fehlentwicklungen entgegen zu wirken auch auf europäischer Ebene effektiver gestalten. „Bislang fehlt es aber auf transnationaler Ebene am notwendigen organisatorischen Unterbau”, so der Jurist.
Die im Februar 2004 mit einem Diskussionsentwurf ins Rollen gebrachte Reform des Strafverfahrens sehen die Strafverteidiger durchaus positiv. Insbesondere die Erweiterung der Mitwirkungsbefugnisse des Verteidigers im Ermittlungsverfahren wird als „Korrektiv bei der Wahrheitsfindung” begrüßt.
Der nächste Strafverteidigertag findet vom 24. bis zum 26. März 2006 in Frankfurt am Main statt.