Aachen : Sopranistin Camille Schnoor: Eine Karriere zwischen Kita und Klavier
Aachen Zum Gespräch kommt sie ein paar Minuten zu spät. „Ich musste noch meinen Sohn in die Kita bringen — und Tee kochen“, entschuldigt sich Camille Schnoor und stellt die Thermoskanne auf das Tischchen, über den man mit Filzstift ihren Namen geschrieben hat. Die Garderobe für weibliche Solisten im Aachener Theater, brauner Resopal-Mief der 50er, aber die 28-Jährige lächelt ihn schnell weg, obwohl sie erkältet ist.
Zurzeit läuft es richtig gut für die Sopranistin: Kritik und Publikum feiern sie im Musical „West Side Story“ genau so wie in der Verdi-Oper „Luisa Miller“. Bald folgt noch die Agathe im „Freischütz“. Heute bleibt ihre FC-Tasse mit dem Geißbock im Garderobenschrank. Die Sängerin trinkt lieber direkt aus dem Thermosbecher. Ein Fußballfan ist die Französin nicht, aber Köln war ihre erste Station in Deutschland. Schluck für Schluck trinkt sie jetzt diese Mischung aus Salbei- und Thymiantee — „eklig, aber wohltuend“. Und dabei erzählt sie Jenny Schmetz, wie wohltuend ihre Aachener Karriere zwischen Kita und Klavier verläuft.
Vor zwei Jahren waren Sie am Aachener Theater noch Praktikantin und jetzt Primadonna. Wie erleben Sie Ihren rasanten Aufstieg?
Camille Schnoor: (lacht) Es ist sehr, sehr schön, mich in diesen großen Rollen ausprobieren zu dürfen. Sonst ist es für mich kein Unterschied, ich fühle mich hier schon seit zwei Jahren zu Hause. Als Primadonna sehe ich mich überhaupt nicht — auf der Straße wurde ich auch noch nie angesprochen, und bisher habe ich nur zwei Autogramme gegeben! (lacht)
Aber in dieser Saison singen Sie gleich drei Hauptpartien. Da wächst doch der Druck!
Schnoor: Ach ja, aber ich persönlich empfinde keinen Druck. Das läuft alles sehr entspannt, zumal wir auch überall doppelt besetzt sind, das heißt: Wenn ich krank bin, kann eine Kollegin einspringen. Bei der Partie der Maria war ich allerdings schon ein bisschen gespannt, wie es funktioniert mit der Stimme. Denn Musical war mir fremd, das habe ich nicht gelernt.
Singen Sie denn Musicalsongs mit einer anderen Technik als eine Verdi-Arie?
Schnoor: Nein, überhaupt nicht. Ich habe, glaube ich, eine gute Kompromisslösung gefunden, weil ich ja nicht versuche, eine Pop- oder Musicalsängerin zu imitieren.
Bei Ihnen klingt es „opernhaft“.
Schnoor: Anders wäre es nicht gesund für meine Stimme. Ich habe durch meine klassische Gesangsausbildung ja eine bestimmte Muskulatur trainiert und kann nicht einfach hin und her switchen. Insgesamt singe ich mit weniger Stimme. (lacht) Die Partie liegt sehr tief, wenn ich da unten mit meiner ganzen Opernstimme ranginge, würde das eher nach Brünnhilde klingen als nach Maria. (lacht)
Außerdem singen Sie ja mit Mikro.
Schnoor: Ja, daher kann ich mich sehr zurücknehmen. Wenn es dann bis zum hohen C geht, muss ich natürlich meine volle Stimme einsetzen. Das ist also immer ein Spiel zwischen gewohnter Opernstimme und Schongang. Und dann kommt auch noch das Sprechen hinzu. Das ist für Opernsänger sehr, sehr anstrengend!
Also, so entspannt hört sich das nicht gerade an! Was haben Sie denn in den zwei Jahren am Aachener Theater gelernt?
Schnoor: Ganz viel! (überlegt) Vor allem, cool zu sein und noch flexibler zu werden. Manchmal werden recht kurzfristige Entscheidungen getroffen.
Zum Beispiel?
Schnoor: Dass ich Gretel in der Premiere singen werde, habe ich erst zur Generalprobe gewusst. Auch von der „Luisa Miller“-Premiere habe ich sehr kurzfristig erfahren.
Wer hat entschieden, dass Sie die Premiere singen und nicht Irina Popova?
Schnoor: Der Generalmusikdirektor hat mich kurz vor der letzten Probenwoche angerufen.
Und Ihre Reaktion?
Schnoor: Ich war unglaublich glücklich, weil ich das nicht erwartet hatte!
Sie betonen immer die Solidarität im Ensemble, aber da gibt es natürlich auch Konkurrenzkämpfe . . .
Schnoor: Ich habe mit niemandem Probleme, aber ich würde das Thema lieber ausklammern.
Gibt es denn rückblickend auf die zwei Jahre Erlebnisse, auf die Sie gerne verzichtet hätten?
Schnoor: Eigentlich nicht. Aber vor Joan Anton Rechis sehr sportlicher Inszenierung des „Barbier von Sevilla“ hatte ich die größte Angst meines Lebens. Die Berta ist für mich sowieso eine hohe Grenzpartie — und dazu noch d ie Rennerei auf zwölf Zentimeter hohen Absätzen! Aber nach der vierten Vorstellung habe ich gemerkt: Das geht alles, wenn man Vertrauen hat und Lockerheit gewinnt.
In „Luisa Miller“ müssen Sie singen, während Ihnen der Intrigant Wurm die Unterhose auszieht . . .
Schnoor: Das ist eine Rolle, in die ich mich mit meiner ganzen Seele , meinem ganzen Körper, meiner ganzen Stimme reinschmeißen kann. In dem Moment bin ich so auf die Intensität der Musik konzentriert, dass ich das Bühnengeschehen gar nicht so mitbekomme. Das ist vom Regisseur natürlich etwas gewagt, aber ich finde es sehr klug, diese Szene als Vergewaltigung anzudeuten. Viele Zuschauer erwarten das vielleicht eher im „Tatort“ als in der Oper — aber warum sollte sich Luisa sonst umbringen wollen?
Als Luisa und Maria müssen Sie Männer anhimmeln — und alles endet tödlich. Was können Sie mit diesen alten Geschichten und Frauenbildern anfangen?
Schnoor: Ganz viel! Wenn ich diese Frauen auf der Bühne verkörpere, versuche ich, mich in sie einzufühlen. Das sind Schicksale, die heute noch passieren, das ist das Leben, das wir darstellen!
Neben Musical und Verdi singen Sie demnächst noch deutsche Oper: Die Jungfer Agathe in Webers „Freischütz“ darf auch vor allem auf ihre Hochzeit warten . . .
Schnoor: Aber das ist eine unfassbar schöne Musik! Und die Agathe begleitet mich schon seit Ewigkeiten. „Leise, leise, fromme Weise“ war die erste deutsche Arie, die ich vorsingen konnte. Die Rolle habe ich als 21-Jährige einstudiert.
Ein bisschen früh, oder?
Schnoor: Eigentlich nicht, denn meine Stimme war schon immer jugendlich-dramatisch, sie hat sich nicht dahin entwickelt.
Star-Sopranistin Anna Netrebko meint, nach der Geburt ihres Sohnes sei ihre Stimme dunkler und größer geworden. Haben Sie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Schnoor: Bei ihr hört man das deutlich. Aber ich hatte bereits mit zwölf, 13 Jahren eine volle, dunkle Stimme. Daran hat sich durch die Geburt meines Sohnes nichts geändert. Aber man reift natürlich sehr durch ein Kind.
Und wie managen Sie das alles als Mutter eines Zweijährigen?
Schnoor: Zurzeit läuft es wunderbar, auch weil mein Mann sich viel Zeit für unseren Sohn nimmt. Eigentlich ist das mit den Arbeitszeiten am Theater gut zu kombinieren: Wenn ich Vormittagsprobe habe, ist Raphael im Kindergarten, und abends ist er im Bett, dann ist mein Mann da oder ein Babysitter. Wir wohnen sehr nah am Theater, das macht einiges einfacher.
Ihr Mann, der auch Opernsänger ist, tritt also für Ihre Karriere zurück?
Schnoor: Nein, zurzeit habe ich einfach mehr zu tun als er. Das ist mal so, mal so.
Hört Ihr Sohn schon Opern?
Schnoor: Er hört sehr, sehr gerne Musik — alles Mögliche, momentan Operette (lacht). „Der Vogelhändler“ hat es ihm angetan. Wenn ich dagegen singe, überwältigt ihn das zurzeit. Meistens weint er, kommt in meine Arme und will, dass ich aufhöre!
Gute Nerven sind also gefragt. Was brauchen Sie noch, um im Stadttheaterbetrieb zu bestehen?
Schnoor: Vor allem Disziplin.
Wobei?
Schnoor: Zum Beispiel beim Lernen. Ich habe mein eigenes System und lerne komplette Partien für mich im Voraus. Rund 30 habe ich drauf: ob Mimi, Traviata oder Elsa — alles Rollen, die ich gerne mal auf der Bühne spielen würde.
Als ausgebildete Pianistin studieren Sie Partien für sich am Flügel ein?
Schnoor: Das ist sehr praktisch! Da ich Pianistin bin, kann ich mir alles selbst beibringen. Meinen Flügel musste ich leider vor ein paar Jahren verkaufen, um meine Gesangsausbildung zu finanzieren. Aber am E-Klavier klappt das auch.
Was hat es noch für Vorteile, als Sängerin Pianistin zu sein?
Schnoor: Ein Pianist lernt, sich auf verschiedene Stimmen gleichzeitig zu konzentrieren. Und auch ein Sänger darf nicht nur seine eigene Gesangslinie kennen, sondern muss einen Gesamtüberblick haben. Er muss auswendig wissen, was jedes Instrument im Orchester zu spielen hat.
Und das wissen Sie?
Schnoor: Ich muss das alles im Kopf und im Ohr haben, ich kann gar nicht anders singen!
Gesangslehrer beklagen, dass junge Sänger im Stadttheaterbetrieb verheizt werden. Singen Sie zu früh zu viel?
Schnoor: Ich finde nicht. Wir haben einen Intendanten, der seine Sänger schützt, der sehr darauf achtet, dass keiner überfordert ist.
Aber Sie müssen hier am Stadttheater alles singen. Ist das nicht Gift für die langfristige Entwicklung Ihrer Stimme?
Schnoor: Die drei Partien sind sicherlich sehr verschieden: Luisa unglaublich hoch, Maria wahnsinnig tief, und Agathe bedient meine Butter-Mittellage. Anfangs habe ich auch gedacht: „Oh, heiße Kombi!“ Deswegen habe ich sehr früh alle drei Partien gleichzeitig geübt, um zu sehen, was mit meiner Stimme passiert. Und sie liegen mir einfach sehr gut!
Aber für welche Musik schlägt Ihr Herz?
Schnoor: Oh, jetzt wird es gefährlich! (lacht) Ich bin eine absolute Wagnerianerin. Das ist die härteste Droge, die es für mich gibt!