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Aachen: Senior Expert Service: Ruhestand? Von wegen!

Aachen : Senior Expert Service: Ruhestand? Von wegen!

Nur noch Vögelchen gucken? Nein, das war ihm nicht genug. Je länger Wolfgang Matthias das Federvieh studierte, desto unangenehmer wurde es. Dieses Kribbeln, diese Nervosität.

Bis der Betriebswirt das Fernglas schließlich beiseite legte. Jetzt fliegt der 68-Jährige lieber selbst durch die Welt.

Auf Mallorca am Strand in der Sonne brutzeln? Nein, das reichte ihr nicht. In Susanne Gartners Innerem brannte die Leidenschaft für ihren Beruf noch viel zu stark. Mit Feuereifer entfacht die 65-jährige Hotelfachmanagerin nun bei anderen Menschen die Glut.

Alles für sich behalten? Nein, das wollte Günter Sontowski nicht. Sein ganzes Insider-Wissen über Schweißelektroden durfte mit dem Abschied aus seiner Firma doch nicht einfach in der Versenkung verschwinden. Heute verschenkt der 69-jährige Ingenieur seine Erfahrungen in seiner „zweiten Heimat” China.

Wolfgang Matthias, Susanne Gartner und Günter Sontowski - zusammen haben die drei über 200 Jahre Lebens- und Berufserfahrung. Und sie teilen ihren Schatz gerne. Denn in ihrem Ruhestand kamen sie nicht zur Ruhe, mit dem Ende ihrer Arbeit war ihre Energie noch lange nicht verbraucht. Daher geben sie ihre Fähigkeiten weiter - als Senior Experten.

Mittlerweile engagieren sich auf diese Weise bundesweit über 6250 Menschen im durchschnittlichen Alter von 65 Jahren. Schon seit 1983 registriert der Senior Experten Service (SES) mit Hauptsitz in Bonn erfahrene Fachkräfte und vermittelt sie vor allem an kleine wie mittelständische Unternehmen im In- und Ausland, besonders aber in Entwicklungs- und Schwellenländern. Hilfe zur Selbsthilfe lautet das Motto der ehrenamtlichen Experten.

Dank des SES füllte die Ornithologie also nur ein sehr kurzes Kapitel in Wolfgang Matthias Leben. Fast 30 Jahre war er in leitender Funktion bei der Bayer AG tätig, nun profitieren von seinem Know-how vor allem Existenzgründer: Seit dem Jahr 2000 ist der Heinsberger als Fachberater für Außenwirtschaft der IHK Aachen unterwegs.

Knapp 150 Firmen hat er als Coach schon beraten. Eigentlich wie früher - nur eins ist anders: „Jetzt darf ich alles sagen, was ich will!”, ruft Matthias und lacht. Doch diese Offenheit ist nicht mit Arroganz zu verwechseln. Sich selbst zurückzunehmen, sei wichtig. Überheblich anzukommen etwa mit der Überzeugung: „Wir bringen den Chinesen jetzt mal bei, wie man Fenster baut - das klappt nicht”, weiß Matthias.

„Je kleiner man sich macht, desto besser”, pflichtet ihm Susanne Gartner bei. „Das ist nichts für großmäulige Typen. Und auch nichts für Fachidioten.” Eher was für „generalisierte Fachidioten” mit großer Neugierde und Abenteuerlust. Die solle allerdings nicht deswegen angestachelt werden, weil man als Experte umsonst in die Ferne fliegen dürfe. Vielmehr motiviere die Erkenntnis: Wir werden gebraucht.

„Ja, das sind Erlebnisse”, sagt Günter Sontowski und nickt bedächtig. Der Mann aus Viersen war als Coach bereits im Iran, in Paraguay und Palästina. Er holt ein Foto, auf dem eine Gruppe Chinesen abgebildet ist, aus der Tasche. „Das sind meine Freunde.”

Die Einsätze dauern bis maximal sechs Monate, da können enge Beziehungen entstehen, die durch Folgebesuche aufgefrischt werden. Und was sagt da die eigene Familie? „Meine Frau ist selbst auch ehrenamtlich sehr aktiv”, erklärt Sontowski. Wolfgang Matthias Ehe zerbrach an seiner Arbeit für Bayer, seine neue Lebensgefährtin steht nun hinter seinem Engagement für den SES.

Und Susanne Gartners Söhne sind aus dem Haus, sie lebt allein in Aachen. „Da kam mir der SES gerade recht.” Überdies ist jeder Einsatz für sie auch eine Bildungsreise, auf der sie ihr Interesse für Kunst und Kultur stillen, ihren Horizont erweitern und Vorurteile abbauen kann.

Im Vordergrund stehe natürlich die Arbeit, oft von neun Uhr morgens bis tief in die Nacht. Dass die gebürtige Münchnerin mit beiden Händen zupacken kann, glaubt man ihr gern. So tauschte Susanne Gartner in einem Fünf-Sterne-Hotel in Vilnius den eleganten Hosenanzug gegen Jeans und Hemd („Ich mache meist auf Kumpel.”), um acht Tage lang mit dem Küchenchef die Speisekarte „durchzukochen”, Wein einschenken zu trainieren und attraktive Tischdekorationen zu gestalten.

Und ihr Engagement wurde honoriert: „Jeder Mitarbeiter hatte zum Abschied ein Geschenk für mich - Wurst, süße Milch, selbst gebackene Plätzchen”, erinnert sie sich. „Dabei mussten sie wirklich hart arbeiten”, betont sie. „Das hat richtig Spaß gemacht!”

Auffällig sei der Lernwille, mit dem die Menschen in China, Lettland oder Litauern den Experten begegnen. „Das ist wie bei uns in den 50er- und 60er-Jahren”, meint Sontowski. „Das ist das, was uns inzwischen fehlt!” Und da ist der Respekt, der ihnen entgegengebracht wird. Zum Beispiel in China. „Da nennt man Ältere die Menschen mit dem großen Gesicht, weil sie so viel Wissen besitzen”, erzählt Sontowski. Hoch angesehen seien sie dort. In Deutschland sei das leider nicht so verbreitet...

Reise ins Ungewisse

So ist jeder Einsatz auch ein Gewinn für die Senior Experten. Ideell. Finanziell unabhängig sollten sie schon sein. 15 Euro Taschengeld pro Tag sind nur eine kleine Aufwandsentschädigung. Fahrtkosten und Unterkunft soll der Auftraggeber bezahlen, kann er das nicht, stehen noch Fördermittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Verfügung. Denn die Senior Experten sind auch als Botschafter für die deutsche Wirtschaft unterwegs. Sie polieren das Image auf, knüpfen Kontakte zwischen Firmen, sichern Exportaufträge. Intensiviert werden außerdem die Einsätze im Inland.

So wurde Susanne Gartner als erste Frau in Deutschland als Senior Expertin angefordert. Dem Besitzer eines alten Brauhauses in Dresden brachte sie Grundsätze von Qualitätsmanagement und Service bei. Beim nächsten Besuch mit ihrem Sohn wird sie dann testen, was hängen geblieben ist...

So lange es die Gesundheit zulässt, wollen die drei mit Schwung und der nötigen Gelassenheit weiter Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Und wer ihnen zuhört, muss sich unweigerlich fragen: War ich als jüngerer Mensch jemals so voller Elan für andere aktiv?

„Es ist noch lange nicht Schluss”, sagt Susanne Gartner und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Energisch ist die 65-Jährige. Und mutig. Ihr nächster Einsatz führt die Managerin in die Mongolei. Da musste sie in der Buchhandlung erst einmal tüchtig nach Reiseliteratur stöbern und lange nach der passenden Flugverbindung fahnden. Wieder eine Reise ins Ungewisse.

Doch eines ist schon sicher: Auch dort wird ihre Ankunft am Flughafen mal wieder für Verwirrung sorgen - trotz SES-Button am Revers. „Nee, das kann sie nicht sein”, wird das Empfangskomitee wohl tuscheln. „Die muss doch viel älter sein.”

Und dann darf Susanne Gartner fröhlich aufs Neue beweisen, dass sie die Erwartungen an eine „Senior Expertin” vor allem in einem Punkt erfüllt: Sie ist eine Expertin. Das hält ganz offensichtlich jung. Die Seniorin sieht man ihr nicht an. Belustigt, aber auch etwas entrüstet schüttelt sie den Kopf: „Die rechnen immer mit Tattergreisen am Stock!”