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Aachen: Sandy Mölling überzeugt bei „Cabaret“-Premiere

Aachen : Sandy Mölling überzeugt bei „Cabaret“-Premiere

Es ist diese irritierende Nähe, die den Zuschauer von Anfang an nicht mehr loslässt — Nähe zum Gefühl der aufblühenden Liebe, zum politischen Unheil, zu würgender Angst und Not: Ulrich Wiggers hat für das Grenzlandtheater Aachen „Cabaret“, das Musical von John Kander (Musik) und Fred Ebb (Texte), auf die Bühne gebracht.

Unbeeindruckt vom Glamour, den dieses Stück umgibt — uraufgeführt 1966 am Broadway, opulent verfilmt mit Liza Minnelli, dekoriert mit zahlreichen Preisen, darunter allein sieben Tony Awards 1967 und nochmals vier 1998 — führt Wiggers „Cabaret“ schnörkellos in das wilde, vergnügungssüchtige Berlin der 20er Jahre mit Menschen, die um ein kleines Stück vom Glück ringen.

Schillernde Gestalt: Julian Looman spielt in der Aachener „Cabaret“-Inszenierung den Conférencier.
Schillernde Gestalt: Julian Looman spielt in der Aachener „Cabaret“-Inszenierung den Conférencier. Foto: Kerstin Brandt-Heinrichs

Matthias Winkler sorgt mit seinem schlichten wie variablen Bühnenbild und den multifunktionalen Möbeln für den richtigen Rahmen. In übereinander liegenden Fächern sitzen die Musiker, später ab und zu auch die Akteure. Vier der Fächer sind durch einfache Glühlampen umrahmt. Lautlose Schiebetüren sorgen für rasche Szenenwechsel.

Maskenhafte Raffinesse

Wiggers gelingt es, mit einem ausgezeichneten Ensemble von Anfang an Spannung aufzubauen und sie bis zum Schluss zu halten. Jede Rolle erzählt eine Geschichte. Der Regisseur setzt auf Episoden, auf das genaue Hinschauen und Hinhören, nicht nur bei den Hauptfiguren. Bereits der bekannte „Willkommen“-Song des diabolischen Conférenciers sorgt für Gänsehaut. Julian Looman gibt dieser schillernden Gestalt maskenhafte Raffinesse und die unheimliche Macht eines Puppenspielers, der schließlich selbst zerstört wird.

Mit Spannung erwartet: Sandy Mölling als Sally Bowles, Star des verruchten Kit-Kat-Clubs. Die Künstlerin, bekannt durch die Band No Angels, überzeugt durch große Bühnenpräsenz. Ihre Musical-Stimme sprengt nahezu den Theaterraum, Titel wie „Life Is A Cabaret“ oder „Maybe This Time“ interpretiert sie atemberaubend kraftvoll und zeitgemäß.

Im Zusammenspiel mit Alexander Soehnle, der dem Schriftsteller Clifford Bradshaw sympathische Sanftheit, aber gleichzeitig eine gewisse Naivität verleiht, zeigt Sandy Mölling Gespür für Zwischentöne. Bei aller Romantik erkennt Clifford im Gegensatz zu ihr die Zeichen der Zeit.

Und der berühmte Kit-Kat-Club? Hier wird Sex verkauft, aggressiv, eindeutig, emotionslos gegen harte Währung. Der rote Glitzervorhang verbirgt eine schäbige, schmutzige Wand. Die feschen Kit-Kat-Girls Marthe Römer, Maria-Danaé Bansen, Janice Rudelsberger sowie Kit-Kat-Boy Marlon Wehmeier tanzen mit eisigem Lächeln, scharfen Posen und eindeutigen Gesten, professionell choreographiert von Marga Render.

Neben der tragischen Liebesgeschichte zwischen Clifford und Sally ist es das Aufkeimen der bösen braunen Saat, die Wiggers in seiner Interpretation des Stoffs sorgfältig herausarbeitet. Eine starke Persönlichkeit gibt Christine Rothacker der Pensionsbesitzerin Fräulein Schneider, deren späte Liebe zum Obsthändler Herrn Schultz wegen dessen jüdischer Herkunft scheitert.

Wenn Fräulein Schneider auftritt, hat man den Eindruck, einer Brecht-Gestalt zu begegnen. Urs-Werner Jaeggi spielt den Obsthändler zugewandt und zerbrechlich. Sein feines Lächeln weicht tiefer Verzweiflung. Die Magie zwischen zwei alternden Menschen zerplatzt wie eine Seifenblase.

Die Nöte der Zeit

Ein Schlaglicht auf die Nöte der Zeit wirft Heike Schmitz als freches, üppiges Fräulein Kost, die sich nur durch ihre männlichen Kunden, meist Matrosen, über Wasser halten kann und schließlich zur willigen Mitläuferin wird.

Sven Fliege überzeugt als strammer Nazi Ernst Ludwig. Die meisten stimmen in sein vaterländisch anschwellendes Lied ein, das mit dem Hitlergruß endet. Das Publikum zeigt sich irritiert und zögert für einen Moment mit Zwischenapplaus.

Das Unglück schreitet fort. Der Conférencier, der zuvor noch in kurzen Hosen wie eine Mischung aus Hitlerjunge und Showmaster mitgehüpft ist, erscheint verprügelt, apathisch und abgerissen. Auch ihn hat Noelie Verdier angezogen, die als Kostümbildnerin in jeder Szene Gespür für Handlung und Zeit beweist — vom attraktiven Fransenlook bis zum gut verpackten nackten Fleisch.

Als musikalischer Leiter ist Damian Omansen (Klavier) den Akteuren mit seinen Musikern — Ela Zagori (Violine), Raphael Klemm/Achim Fink (Posaune), Andreas Hirtler/Johannes Vos (Bass/Tuba), Steffen Thormählen/Samuel Reißen (Schlagzeug) — sehr nah. Gemeinsam sitzen sie in ihren Fächern auf und über der Bühne und sorgen live für noch mehr Authentizität und Clubgefühl.

„Cabaret“ im Grenzlandtheater Aachen, das ist in der Umsetzung von Ulrich Wiggers ein intensives Kammerspiel. Dieser Regisseur hat keine Angst vor der Erfolgsgeschichte einer gefeierten Produktion und braucht den Vergleich nicht zu scheuen. Er und sein Ensemble erzählen schlicht und konsequent eine tief greifende Geschichte mit vielen Wahrheiten und zeigen, was Theater immer noch kann: berühren und begeistern. Der Applaus des Premierenpublikums, an dem sich auch die Kölner Regierungspräsidentin Gisela Walsken beteiligte, war entsprechend euphorisch.