Neu im Kino: „Saint Omer“ : Preisgekröntes Drama über Mutterschaft und Rassismus
Die französische Regisseurin Alice Diop erzählt in dem komplexen Justizdrama „Saint Omer“ von einer jungen Frau, die ihre Tochter umgebracht haben soll. Dafür hat sie eine ungewöhnliche Perspektive gewählt.
Im französischen Ort Saint Omer ist die aus Senegal stammende Studentin Laurence Coly (Guslagie Malanda) angeklagt, ihr 15 Monate altes Kind ertränkt zu haben. Im Zentrum des Films „Saint Omer“ steht der Prozess, der allerdings kein herkömmliches Gerichtsdrama ist. Die ungewöhnlich sanftmütige Richterin (Valerie Dreville) liest zu Beginn zwar die Namen der Geschworenen vor, jedoch bekommt man keinen einzigen je zu Gesicht. Es ist ein frühes Indiz dafür, dass das Urteil hier entweder den Zuschauern überlassen bleibt oder am Ende vielleicht gar keine Rolle spielt.
Im ersten Spielfilm der französischen Dokumentaristin Alice Diop lernt man zunächst die ebenfalls aus einer senegalesischen Familie stammende Rama (Kayije Kagame) kennen. Sie beobachtet den Prozess für ihr neues Buch, in dem sie sich dem Kriminalfall über die antike Medea-Sage nähern will. Was Rama genau an dieser Geschichte interessiert, bleibt eine Weile nebulös; die junge Frau ist eine schwierige Kinofigur. Trotzdem entwickelt sie durch ihre mächtige Statur und das markante, von langen Flechtzöpfchen gerahmte Gesicht eine fesselnde Präsenz. Man sieht Ergriffenheit und Angst in ihrem durchdringenden Blick. Sehr lange bleibt Rama passiv, wie ein Medium, durch das man die Ereignisse wahrnimmt.
Die Verhandlung inszeniert Diop mit präzisem Minimalismus wie eine Theateraufführung. Geduldig verharrt die Kamera auf einzelnen, meist in der Bildmitte platzierten Darstellern: auf der empathischen Richterin, der ähnlich behutsam agierenden Anwältin und vor allem auf Laurence. Während Rama die meiste Zeit schweigt, offenbart Laurence sich in ausführlichen Monologen über ihr von Entfremdung, Isolation und Auflösung geprägtes Leben.

Diese enorme Konzentration auf Sprache und Körper führt zu einer intensiv spürbaren Emotionalität. Die Figuren wirken permanent angespannt; sie sprechen oft ausdruckslos, aber erzählen dafür viel über ihre glühenden Augen. Besonders in Laurence scheint es zu brodeln. Statt um die Durchleuchtung des Kriminalfalls geht es mehr um persönliche Erfahrung. Mit der Zeit wird klar, dass Rama ihre eigenen Ängste in Laurences Schicksal wiederfindet. Auch sie hat ein distanziertes Verhältnis zu ihrer Mutter, auch sie ist schwanger.
„Saint Omer“ widmet sich Themen wie Mutterschaft und Rassismus, ohne sie thesenhaft auszuformulieren oder in dramatischen Konflikten aufzulösen. Mehrmals beschwört Diop ein weibliches Gemeinschaftsgefühl herauf. Nähe wird im Film meist durch Blickkontakt hergestellt. Dieser Kontakt kann aufrütteln und erschüttern.
Als sich Rama am Laptop eine Szene aus Pasolinis Medea-Verfilmung ansieht und sich von der Hauptdarstellerin Maria Callas angestarrt fühlt, schreckt sie ebenso zurück wie im Gerichtssaal, als Laurence sie einmal lange und vertraut ansieht. Es wirkt ein bisschen pathetisch, wenn die Darstellerinnen gegen Ende mehrmals direkt in die Kamera blicken, aber es folgt durchaus der Logik, dass Blicke verstehen helfen. „Saint Omer“, der beim Filmfest Venedig den Großen Preis der Jury gewann, ist wie ein Puzzle, bei dem einige Teile fehlen, das Bild aber trotzdem erkennbar ist. (Aachen: Apollo) ★★★★☆
„Saint Omer“ (Frankreich 2022), Regie: Alice Diop, mit Kayije Kagame, Guslagie Malanda, 123 Min., FSK: ab 12.