Aachen : Papst fährt im Papamobil zur „Tosca“ ein
Aachen Als dann der Papst höchstselbst als Tattergreis im Papamobil ins Te-Deum-Finale des ersten Aktes einfährt, wird es ungemütlich im Parkett des Theaters Aachen. Zischen und Kopfschütteln konkurrieren mit aufgerissenen Mündern für dieses von der üppigen Musik im Graben getragene grandiose Spektakel auf der „Tosca“-Bühne.
Regisseur Ludger Engels hat mal wieder die große Keule ausgepackt, um seine Sicht auf eine von Macht und Gier (nach Sex) verseuchte Welt hier in Puccinis Drama deutlich zu machen. Da werden die schmucken Knaben des Kinderchores mitten in der Papstkirche von fetten Kardinälen liebkost. Nonnen schminken zwei Mädchen mit Kniestrümpfen und kurzen Röckchen die Lippen grellrot und führen sie dem weltlichen Machthaber Scarpia zu. Die Posaunen wüten, die Große Trommel grollt. Fortsetzung nach der Pause.
Wird das Stück missbraucht?
Die Geister werden sich scheiden an dieser Inszenierung, das macht schon der von wütenden Buhs gefärbte Applaus nach der Premiere deutlich. Und man darf sich natürlich fragen, ob Engels’ Bilder zur langjährigen Missbrauchspraxis im Schoß von Mutter Kirche nicht Puccinis Oper irgendwie missbrauchen. Bei Ansicht der gesamten Regiearbeit jedoch zerstreuen sich solche Einwände schnell, denn Engels hat etwas zu sagen. Und er tut das im Einklang mit Puccini. Denn natürlich sind hier Kirche und weltliche Macht Verbündete im Kampf gegen Dissidenten, wie sie in „Tosca“ vom frisch aus der Engelsburg entwichenen Angelotti und seinem Freund, dem Maler Cavaradossi, verkörpert werden.
Diese beiden haben nicht nur den Mesner zum Gegner, sondern auch den Polizeichef Scarpia, der Cavaradossis Geliebte, Tosca, gern zum Gegenstand seiner Gier nach (erniedrigendem) Sex machen würde. Nun hat sich Engels ganz besonders jenem Fiesling zugewandt, den er einerseits zwar junge Mädchen vernaschen und die Tosca nach Belieben erpressen lässt, andererseits aber selbst — deutlich subtiler allerdings — als missbrauchten, zutiefst beschädigten Charakter zeichnet. Und da zumindest schließt sich — in aller Drastik zwar — der Kreis der Regie.
Die Aachener „Tosca“ hat aber noch weit mehr zu bieten. Da gibt zunächst die Idee, der großen Sängerin Floria Tosca ihr (inneres) Kind beizufügen, reichlich Stoff für spekulierende Gespräche auch nach der Vorstellung. Engels lässt ein Mädchen aus dem im Übrigen hervorragend disponierten Kinderchor zur Ouvertüre und im Schlussakt in einer Vitrine die Diva doppeln. Die Glasbox des Papamobils wird auf diese Weise im zweiten Teil des Abends zu einem zentralen, hermetischen Ort der Handlung. Mal wackelt der Papst als Gärtner eines Rosenstocks hinein, um dem Tosca-Kind eine Blüte abzuschneiden; mal ergehen sich Tosca und Cavaradossi davor in herzzerreißenden Liebesschwüren.Am Ende ist die Vitrine Ort für die grelle Himmelfahrt der Titelheldin. Das verstehe, wer kann.
Zum Zweiten aber ist die musikalische Qualität der Aufführung bemerkenswert. Irina Popova gibt der Titelpartie zwar ein heftiges Tremolo bei, ihr farbenreicher Sopran schwingt sich aber verschwenderisch schön in all die emotionalen Regionen auf, die die „Tosca“ so einzig machen. Ihr zur Seite steht, kurzfristig eingesprungen, mit Adriano Graziani ein in edlem Metall glänzender Tenor, der die Cavaradossi-Partie traumhaft sicher auch mit vielen lyrischen Farben auskleidet. Christian Tschelebiews Scarpia besticht durch große Wandlungsfähigkeit, die der Bühnen-Figur auch verletzliche Facetten abgewinnt. Neben Pawel Lawreszuk als Mesner agiert Jorge Escobar, Mitglied des Opernchores, sehr eindrücklich in der Partie des Angelotti.
Orchester trumpft auf
Das alles wird getragen von einem vor Spielfreude auftrumpfenden Sinfonieorchester Aachen, dem GMD Kazem Abdullah auch mal die ganz große Geste abverlangt. Opernchor, Kinderchor, Extrachor runden eine exzellente musikalische Leistung ab.
Viel zu hören, viel zu sehen (die vielschichtige Drehbühne erdachte Christin Vahl, die Kostüme Britta Leonhardt), viel zu erleben und viel nachzudenken bei dieser Premiere zur Spielzeiteröffnung. Das Haus von Intendant Michael Schmitz-Aufterbeck in seiner elften Saison kann mit dem Auftakt zufrieden sein. Sogar das Wetter spielte mit an diesem Sonntagabend, der den Theaterplatz mit Live-Musik und Kneipen-Zelt zum kulturellen Zentrum der Stadt machte.