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Aachen: Oper „Powder Her Face“: Im Chaos von Rotlicht und Leidenschaften

Aachen : Oper „Powder Her Face“: Im Chaos von Rotlicht und Leidenschaften

Mit vollem Mund spricht man nicht. Das gebietet, zumindest in Mitteleuropa, der Anstand. Mit vollem Munde zu singen, dürfte dagegen noch eine Portion unanständiger sein, jedenfalls dann, wenn es sich bei der Betreffenden um eine leibhaftige Repräsentantin des britischen Adels handelt.

In Thomas Adès’ Oper „Powder Her Face“ spielt eine Duchess die Hauptrolle, und bei dem, was sie da zwischen Zunge und Gaumen führt, handelt es sich nicht etwa um delikate Krustentiere. Die Schmatz-, Grunz-, und Stöhngeräusche, die sie in besagter Szene quer durch die Register ihrer wohlgebildeten Sopranstimme von sich gibt, sprechen eine unmissverständlich unanständige Sprache. „Powder Her Face“ ist die erste Blowjob-Oper der Musikgeschichte.

Mit Lust am Experiment

Das Theater Aachen hat mit Ludger Engels einen dem Hause lange verbundenen Regisseur mit Lust am Experiment für diese Spielplanrarität engagiert. Und wie erwartet, zeigt er überhaupt keine Lust, die skandalträchtige Szene irgendwelchen Voyeuren zum gefälligen Fraß vorzuwerfen. Im Gegenteil: Man sieht im Halbdunkel eines ehrwürdigen Hotelzimmers kaum mehr als den entblößten straffen Hintern des Zimmerdieners, an dem sich die Hände der Herzogin zu schaffen machen. Umso delikater tönt es aus dem Graben, wo Kapellmeister Justus Thorau das mit allerlei seltsamen Instrumenten ausgestattete Kammerorchester derart zu Höchstleistungen anstachelt, dass das Publikum vor lauter Klangillustration ins Kichern gerät.

Es sind rasante, verstörende, bild-, klang- und bedeutungsgewaltige zweieinhalb Stunden, in denen die Inszenierung dem Publikum — zwischen Rotlicht und Stroboskop — eine Menge abverlangt. Engels hat sich in den Kopf gesetzt, die der Oper zugrundeliegende wirkliche Geschichte der Herzogin von Argyll, die als Dirty Duchess die britische Boulevardpresse bis zu ihrem elenden Ende in den 90er Jahren mit Skandalen versorgte, als ein Stück übers Altwerden zu erzählen. Dazu schwebt als Grande Dame mit meist unter einer dicken Creme-Maske verborgenem Gesicht die große Elisabeth Ebeling als betagte Herzogin durch die Szenerie.

Vielleicht ist alles nur ihr Traum, was sich da in den Zimmerfluchten der Drehbühne abspielt. Die wirkliche und die patinierte Pracht, die Ausstatter Moritz Junge zwischen vier raffiniert halbtransparenten Wände eingerichtet hat, wirbeln jedenfalls wie das Leben der Duchess an den Zuschauern vorbei. Kaleidoskop der Leidenschaften. Lehrbeispiel selbstbestimmter weiblicher Sexualität in einer männlich dominierten Gesellschaft. Ja, auch ein Versuch übers Altern.

Adès schrieb erste Kammeroper 1995 als 24-Jähriger. Da war die wirkliche Duchess gerade einmal drei Jahre tot. Sowohl Libretto wie Partitur lieben das Zwielicht. Das betrifft weniger die (sexuellen) Zweideutigkeiten, die sind recht eindeutig. Eher schon die Erzählweise, die sprunghaft verschiedene Lebenssituationen der Herzogin aufsucht. Dabei werden die vielen handelnden Personen von den gleichen Schauspielern verkörpert, was zu einer Art Typisierung führt.

Musikalisch folgen wir einem Parforceritt durch die Stile der Zeiten: Walzer, Tango, Swing, Jazz sind eingefasst in die Klanglichkeit der Neuen Musik, die beherzt in der klassischen Musikgeschichte Zitiert. Hier klingt Strauss hinein, dann wieder beherzte Atonalität in Farben, die von Akkordeon über Harfe bis zum mit Angelspulen und alten Telefonklingeln angereicherten Schlagwerk reichen.

Engels spinnt diese Unschärfen konsequent weiter. Viele Umzüge finden auf offener Bühne statt, Räume und Zeiten sind schwer zu unterscheiden.

Kolossal präsent: Eva Bernard

Überhaupt dreht sich alles um die Duchess der großartigen Eva Bernard. Die Sopranistin, die diesmal als Gast in Aachen ist, gewinnt ihrer überaus schwierigen Partie kolossale Präsenz ab. Ihr Sopran springt scheinbar mühelos durch die Register, ist zu emotional mitreißenden Kantilenen fähig, gebiert selbst im nach innen gerichteten Tönen noch brodelnde Leidenschaft.

Ihr zur Seite gibt der Bass Bart Driessen bemerkenswerte Kostproben seiner Vielseitigkeit, Patricio Arroyo führt seinen lyrischen Tenor sogar bis in die Köstlichkeiten des Musicals, Jelena Rakics Koloratursopran muss zwar immer wieder Schweinereien quieken, ihre Partie verlangt ihr aber auch die kantablen Klänge ab. Alle vier spielen und singen außerordentlich. Bei aller Einschränkung, dass die Regie nicht immer Übersicht ins Chaos der Leidenschaften bringen will oder kann, so ist doch die Präsenz der Sänger-Schauspieler bemerkenswert.

Bleibt die Frage, was uns dieser Abend sagen will. Engels versucht, ein optimistisches Schlussbild mit der alten Duchess im verklärenden weißen Spot, während ihr alter Ego über eine endlose Leiter ins Dunkel einer nicht näher beleuchteten Großstadt entschwinden will. Einhelliger Beifall gegen einen standhaften Buh-Rufer.