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Vor der Premiere von „Carmen“ in Aachen: Oper – jung, frisch und knackig

Vor der Premiere von „Carmen“ in Aachen : Oper – jung, frisch und knackig

Ein neuer Tenor am Theater Aachen, eine interessante Regie-Debütantin und eine Kracher-Oper: Auf zu „Carmen“!

Ja, natürlich – da draußen vor den wuchtigen weißen Säulen eilen ganz viele Leute vorbei, die niemals einen Schritt über die Schwelle des Aachener Theaters setzen werden. Das weiß auch Carlos Moreno Pelizari. „Schade“, seufzt der Tenor. In seiner chilenischen Heimat gebe es dafür ein Sprichwort: „Der Reiche weiß nicht, was er besitzt.“ Gerade die reiche Theaterlandschaft war für ihn der Grund, als Gesangsstudent vor zehn Jahren von Santiago de Chile ins „Paradies“ Deutschland zu ziehen. Und jetzt, neu im Aachener Ensemble, will er es schaffen, mehr Menschen hinter die Säulen zu (ver)führen – zum aufregenden Live-Event Theater.

Seine erste Rolle in Aachen bietet dafür beste Chancen. Da ist nicht nur der 36-Jährige kennenzulernen, der mit Instagram-Fotos für sich wirbt, auch schon mal knackig. Dazu gleich mehr. Nein, da haben wir ja vor allem die wohl bekannteste und meistgespielte Oper der Welt: Bizets „Carmen“. Und mit Lucia Astigarraga eine junge spanische Regisseurin, die dem genialen Werk voller Drama, Leidenschaft und musikalischer Hits, das Musiktheaterfans vielleicht schon etwas ausgelutscht finden, einen neuen Kick verpassen könnte. Obwohl das angesichts Tausender Inszenierungen kaum möglich sei, stapelt die 34-Jährige tief.

Die Spanierin Carmen wird bei ihr jedenfalls nicht im roten Rüschenkleid über die Bühne wirbeln oder mit Kastagnetten klappern. Solche Klischees wurden ja auch schon in Aachens bisher letzter „Carmen“, 2012 inszeniert von Michael Helle, nicht bedient. Vielleicht geht die Frau aus Bilbao noch etwas weiter. „All my life is ‚Carmen‘“, sagt sie und schnauft. Und das bezieht sich nicht nur auf den stressigen Probenendspurt. Die ausgebildete Schauspielerin stand in der Saison 2019/20 im Nationaltheater Mannheim selbst als spanisch sprechende Carmen-Doppelgängerin auf der Bühne. Außerdem war sie in den vergangenen fünf Jahren als Assistentin des berühmten spanischen Regisseurs Calixto Bieito im Einsatz – auch bei seiner zum Klassiker avancierten „Carmen“, die seit rund zwei Jahrzehnten über Europas Bühnen von Heerlen bis Wien tourt.

Wie bei Bieito ist in Astigarragas erster eigener Operninszenierung keine Folklore zu erwarten, kein pseudospanischer Kitsch – eher harte „Realität“. Zwischen Zigarettenautomat und Wäscheleinen spielt bei ihr das Drama um die freiheitskämpfende Fabrikarbeiterin Carmen und ihre Geliebten Don José und Escamillo, verlegt aus dem 19. an den Beginn des 21. Jahrhunderts – in die „Suburbs“ von Madrid. Ja, der früher gerne als „Skandalregisseur“ betitelte Bieito habe großen Einfluss auf ihre Arbeit, sagt Astigarraga auf Englisch. Sie habe von ihm gelernt, frei zu sein, auszuprobieren, zu experimentieren.

Vom Mann zur Frau

 Polizist trifft Fabrikarbeiterin: Carlos Moreno Pelizari als Don José und Fanny Lustaud als Carmen.
Polizist trifft Fabrikarbeiterin: Carlos Moreno Pelizari als Don José und Fanny Lustaud als Carmen. Foto: Carl Brunn

So wirkt ihre Grundidee durchaus ungewöhnlich: Carmen, die in Aachen von Mezzosopran Fanny Lustaud dargestellt wird, ist transgender, war also ein Mann, ist nun eine Frau und will als solche akzeptiert werden. Für die Regisseurin eine treffende Übersetzung ins Heute für die Außenseiterin, von der sich viele angezogen und zugleich abgestoßen fühlen.

Tenor Pelizari, der sein Rollen-Debüt als Don José geben wird, findet das Regie-Konzept „sehr interessant“. Vor allem aber lobt er die singenden Kollegen: „Die Besetzung ist besonders jung und frisch.“ Alle in den Hauptrollen seien unter 40. Er selbst will den Don José weniger heldisch als lyrisch angehen. Eine Tenor-Tonne, die zur Rampe rollt und ins Publikum blökt, ist also nicht zu befürchten.

Im Gegenteil, wie ein Blick in seinen Instagram-Account zeigt: Da kuschelt Pelizari mit Mischlingshündin Sofia, die mit seiner Frau Kirsten Labonte, Sopranistin an den Landesbühnen Sachsen, in Dresden wohnt; herzt seine Mama („Jür jeden Latino das Allerwichtigste!“), eine Musiklehrerin; und präsentiert seinen Body – inklusive Sixpack. Entstanden angeblich ohne Fitnessstudio-Besuche. Nur mit „ein bisschen Sport“, regelmäßigem Joggen auf dem Lousberg, Meditation und Atemübungen sowie guter Ernährung halte er sich und seine Stimme fit. „Viel wichtiger als das Aussehen ist aber, dass man sich auf der Bühne wohlfühlt – egal ob mit Sixpack oder ohne“, betont der Sänger in exzellentem Deutsch. Das hat er sich bei seinem Studium an der Essener Folkwang-Uni im Intensivkurs erarbeitet.

Nach festen Stationen in Detmold und Saarbrücken – dort gemeinsam mit dem heutigen Aachener Generalmusikdirektor Christopher Ward, der jetzt auch „Carmen“ dirigiert – und etlichen Gastspielen in deutschen Stadttheatern mit Rollen wie Nemorino, Tamino, Alfredo oder „Rigoletto“-Herzog nun also der Don José: Sicherlich, sängerisch ist die Partie mit der bekannten Blumenarie „tricky“, sagt Pelizari. Die schauspielerische „Achterbahn“ sieht er aber eher als Herausforderung: die rasante Entwicklung Don Josés – in Aachen vom schüchternen Polizisten, der Carmen vor der Vergewaltigung durch eine Männerhorde rettet und sich in sie verliebt, hin zu ihrem „verrückten Mörder“.

Die Regisseurin scheint jedenfalls zufrieden mit Pelizaris Performance – und preist seine „latin passion“. Ja, das höre sich sehr nach Klischee an, aber es stimme! Wie zum Beweis legt Pelizari im Gespräch öfter seine Hände links auf die Brust: „Mein Ziel ist es, das was ich hier habe, rauszubringen, in Töne zu übersetzen.“ Bestimmt kann er mit Herz, Leidenschaft und Muckis auch ein paar Opernneulinge verführen.