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Neues Album von Jean-Michel Jarre: In den Tiefen des Regenwaldes

Neues Album von Jean-Michel Jarre : In den Tiefen des Regenwaldes

Jean-Michel Jarre erzählt auf seinem neuen Album „Amazônia“ in poetischer Tonsprache von der Schönheit des Urwaldes und illustriert gleichzeitig mit Moll-gefüllten Kontrapunkten dessen Bedrohung. Die Musik ist im Rahmen einer Ausstellung der gewaltigen sozialkritischen Fotos von Sebastião Salgado entstanden.

Jean-Michel Jarre liebt das Besondere, und sein neues Album „Amazônia“ gibt ihm die Gelegenheit, Teil einer allumfassenden Kunstempfindung zu werden. Mal wieder. Das Werk des inzwischen 72-jährigen französischen Komponisten und Elektronik-Musikers weist bekanntlich große Ambivalenzen auf.

Einerseits studierte er unter der Ägide des Musique-Concrète-Theoretikers Pierre Schaeffer in den späten 1960er Jahren die damals avantgardistisch wirkende akusmatische Musik. Darin treten die Klangerzeuger in den Hintergrund und sind meist auch nicht identifizierbar, wodurch eine Situation des reinen Hörens entsteht. Später, 1983, brachte er aus Protest gegen das Zeitalter der Überinformation, gegen standardisierte Musikwahrnehmung und Übersättigung mit Klängen und Bildern ein Album heraus, von dem es nur ein einziges Vinyl-Exemplar gab. Das zerstörte Jarre umgehend eigenhändig – und natürlich aufmerksamkeitswirksam. „Music For Supermarkets“ nannte er das Kunstobjekt.

Andererseits brachte Jarre seine Musik bei Veranstaltungen zur Aufführung, die keine Konzerte, sondern licht- und tonspeiende Freiluft-Massenspektakel waren. Eine vergleichsweise bescheidene Million Zuschauer zog er etwa 1979 auf die Place de la Concorde in Paris, 1,3 Millionen waren es 1986 im texanischen Houston, 2,5 Millionen kamen 1990 zum Stelldichein in das futuristische Ambiente von La Défense an der Seine, und 3,5 Millionen Schaulustige fanden sich schließlich 1997 zu einer von Jarres Shows der Superlative in Moskau ein.

Dabei musste Jarre seit dem Beginn seiner Karriere eigentlich nichts mehr beweisen! Selten klang musikalischer Fortschrittsglaube so popmusikalisch wertvoll wie 1977, als er von seinem Debütalbum „Oxygène“ zwölf Millionen Einheiten verkaufte. Aber wohin mit der Popularität, die er mit dem Folgealbum „Équinoxe“ noch untermauerte? Spätestens Mitte der 80er Jahre, so schien es, hatte Jarre das Originelle seiner Musik gegen die Unmäßigkeit der besagten Shows eingetauscht.

Das sollte sich ändern, als der brasilianisch-französische Fotograf Sebastião Salgado dem Musiker vor geraumer Zeit von der Idee für eine Ausstellung erzählte: Er wolle die Besucher mit der Schönheit des brasilianischen Amazonas-Regenwalds und zugleich dessen menschengemachter Zerstörung konfrontieren. Dafür schwebte Salgado eine mehrdimensionale Ausstellung vor, in deren Zentrum mehr als 200 Fotografien stehen, die der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels während eines sechsjährigen Trips durch das Amazonas-Gebiet gemacht hat. Das Herzstück der Ausstellung sollte ein multisensorisches Erlebnis sein, bei dem der Besucher den Amazonas sehen und hören und über die Zukunft der Artenvielfalt und den Platz des Menschen in der Schöpfung nachdenken kann. Salgado, der ein Vertreter der sozialdokumentarischen Fotografie ist, bat Jarre darum, die Ausstellung mittels einer eigens komponierten Klangkreation zu begleiten.

Es brauchte nicht viel Überzeugungsarbeit, um den Herrn über Knöpfchen, Tasten und Kompositionssoftware von der Idee zu begeistern. Jenseits jeglicher Marktgesetze, konnte Jarre seiner Idee von Ausstellungsmusik freien Lauf lassen. Und da er selten ein Freund von Reduktion war, schwebte ihm prompt eine symphonische Klangarchitektur vor.

Das knapp 52 Minuten umfassende Resultat hätte von einem klischeetriefenden ethnomusikalischen Ansatz geprägt sein können, wenn Jarres Qualitätsbewusstsein nicht nach wie vor intakt wäre. „Genau diesen Ansatz wollte ich vermeiden, denn mit ihm wäre die Komposition zur bloßen Hintergrundmusik geworden“, erklärt er. „Stattdessen habe ich eine Art musikalische Werkzeugkiste mit orchestralen und elektronischen Elementen entwickelt, um das Timbre realistischer Naturgeräusche nachzuahmen. Diese Sounds habe ich mit Umgebungsgeräuschen und Aufnahmen von Stimmen, Liedern und Instrumenten aus dem Tonarchiv des Ethnographischen Museums in Genf verbunden.“

Ganz dem Symphonie-Grundgedanken zugewandt, umfasst „Amazônia“ neun Sätze. Die Suche nach typischen harmonischen und motivischen Merkmalen einer Symphonie läuft beim Lauschen des Albums allerdings beinahe ins Leere. Zwar blinken kleine, wiedererkennbare Themen im Verlauf des Stücks hier und da quasi als Leitfäden auf. Auf den klassischen symphonischen Aufbau verzichtet Jarre jedoch zugunsten feiner Phasenverschiebungen. Die lässt er von Pulsen tragen, denen er trotz ihrer großen Bedeutung scheinbar nebensächliche Wichtigkeit beimisst.

Jarre setzt auf akustischen Impressionismus

Alle paar Sekunden zirpt ein exotischer Vogel, Gewitter bahnen sich ihre Wege, Holzschellen werden geschüttelt, Feuer lodern und Klagegesänge erklingen, während Synthesizer-Klänge wahlweise Wunder oder Unheil verkünden. Es braucht die Fotos Salgados nicht zwangsläufig, um Jarres Interpretationen der Bilderserie zu verstehen. Dem Weltwunder Amazonas Regenwald nähert er sich behutsam, erzählt in poetischer Tonsprache von dessen Schönheit, und illustriert gleichzeitig mittels reichlich Moll-gefüllter Kontrapunkten deren Bedrohung. Den Zeigefinger erhebt er dabei genauso wenig wie damals, als er mit der verstörenden Schädel-Grafik, die das Cover von „Oxygène“ grafisch ansprechend zierte, auf Umweltzerstörung hinwies.

Lieber setzt er auf akustischen Impressionismus, schafft Stimmungen, die in ihren Ambivalenzen Salgados Fotos ergänzen. „Ich wollte den Regenwald in dieser Musik als fantastische Vorstellung erschaffen“, erzählt Jarre. „Denn der Amazonas hat eine starke mythische Qualität, sowohl für uns Menschen im Westen wie auch für die indigenen Völker Südamerikas. Ich musste zu den Grundprinzipien natürlicher Klangkomposition zurückkehren, um eine Geräuschkulisse zu kreieren, deren Elemente scheinbar willkürlich ineinanderfließen und trotzdem Harmonien und Dissonanzen erzeugen. So wie jede Symphonie oszilliert auch diese Musik zwischen Momenten der Klarheit und Spannung, wie ich finde.“

So kostbar, weil eher sporadisch, lässt Jarre mit „Amazônia“ seine Kreativität klar Richtung Kunstmusik schwingen.

Jean-Michel Jarre: „Amazônia“ (Columbia/Sony)