Popmusikalischer Ausblick : Davon wird 2022 zu hören sein
Aachen Ob skurril-poppig oder spleenig-kunstvoll: Das neue Musikjahr wird interessant! Es wird gleich mehrere lang ersehnte Wiederhören mit liebgewonnenen alten Bekannten und neue Alben von jungen Zeitgenossen geben.
Im Sommer des gerade zu Ende gehenden Jahres lobte sich der Bundesverband Musikindustrie (BVMI) in einer Pressemitteilung zum wiederholten Mal selbst. Es ging um den sogenannten Halbjahresreport 2021, in dem ein Gesamtumsatz von knapp 904 Millionen Euro ausgewiesen wurde, bevor auch die Zuwächse im „Digitalanteil“ von Musikverkäufen und bei den Absatzzahlen von Vinylscheiben besonderer Erwähnung bedurften. Obendrein bescheinigte sich der Branchenverein in der Jubelmeldung noch ein Umsatz-Plus von 12,4 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. „Die Halbjahres-Zahlen belegen einmal mehr die Innovationskraft der Branche und die strategische Weitsicht unserer Mitglieder“, resümierte Florian Drücke, der Vorstandsvorsitzende des BVMI. Na, dann ist ja alles in Ordnung, sollte man meinen.
Die Bundesbürger streamten, hörten und kauften 2021 mehr Musik als im Jahr zuvor, die Plattenfirmen bündelten ihre scheinbaren Innovationskräfte und stellten obendrein progressive Sichtweisen unter Beweis. Um welche es sich dabei handelte, ließ der Verband freilich offen. Sicher, Klappern gehört gerade im Paralleluniversum Musikwirtschaft, die vom Diktum „besser, schneller, höher, weiter, verrückter“ lebt, zum Handwerk. Das Musikgeschäft käme jedoch ohne die Kreativkräfte der Musikschaffenden keinen Deut weiter. Denen waren die Erfolgsmeldungen des vergangenen Jahres letztlich nämlich eigentlich geschuldet.
Musiker zeigten sich jüngst so produktiv wie selten zuvor, was eine beispiellose Flut an Veröffentlichungen nach sich zog, die zwangsläufig zu Mehrumsatz führen musste. Ob die Welle an Alben ihren Ursprung im Pandemie-bedingten Mangel an Auftrittsmöglichkeiten oder im Gemütszustand der Songwriter und Komponisten hatte, den die Abstandsregeln bei so manchem von ihnen hervorriefen, lässt sich nicht eindeutig belegen. Fakt ist jedoch, dass sich überdurchschnittlich viele Musik-Produktivkräfte, die dachten, sich mitteilen zu müssen, über die emotionalen Folgen von Covid ausließen – mitunter auch in ausschließlich instrumentaler Weise. In mindestens jedem vierten Begleittext wurde dergestalt ausufernd über die „verrückten Zeiten“ palavert, dass man es spätestens im Frühsommer nicht mehr zur Kenntnis nehmen wollte.
Insbesondere die Großverdiener der Musikmeute enthielten sich allerdings jeglicher Covid-Botschaften – natürlich, möchte man sagen, oder: Gott sei Dank. Denn weder von Adele noch von Coldplay, ganz zu schweigen von Helene Fischer oder Abba, darf man zum allgegenwärtigen Dauerthema Erbauliches erwarten. Denen standen jedoch Isolations-Statements und Gegenentwürfe der, sagen wir mal, eindimensionalen Art gegenüber, wenn sich die Damen und Herren Künstler nicht gleich zu Erleuchteten erklärten. Keiner weiß, in welchen gedanklichen oder emotionalen Sphären Van Morrison und Nena gerade herumturnen – der Realität aber scheinen beide Querdenker abgeschworen zu haben.
Ob es im neuen Jahr inhaltlich eher skurril-poppig oder spleenig-kunstvoll wird, lässt sich freilich im Vorfeld nicht mit Gewissheit sagen. Allerdings weisen die Vorankündigungen zumindest schon mal auf ein interessantes Musikjahr hin. Es wird gleich mehrere lang ersehnte Wiederhören mit liebgewonnenen alten Bekannten und neue Alben von deren deutlich jüngeren Ziehsöhnen und -töchtern geben. 2022 beginnt gleich am kommenden Wochenende mit einer verheißungsvollen Platte: Posthum wird am 7. Januar David Bowies „Toy“-Album, das 2001, also vor der Veröffentlichung von „Heathen“ im Schnellverfahren aufgenommen worden war, Weltpremiere feiern.
Dem schließen sich noch im Januar neue Kleinode von Elvis Costello & The Imposters, Billy Talent, den Eels und Tocotronic an. Der Kino- und Serien-Held Kiefer Sutherland wird sich auf Albumlänge in die „Bloor Street“ seiner Jugendjahre in Toronto zurücksehnen, während Ian Anderson seinen Patina-besetzten Markennamen Jethro Tull wiederbelebt. Mitte Februar gibt‘s juvenil-pulsierenden Jazz aus der Region zu hören, wenn der Aachener Saxofonist Werner Hüsgen „Soul & Mind“, das Debütalbum seines neuen Aventura Quartetts, zum Austreiben des Winter-Blues veröffentlicht. Flankiert wird die Platte mit neuen Offerten aus dem Rock- und Popbereich von Frank Turner, Korn, Johnossi, Guns’n’Roses, dem Abschiedswerk der australischen Band Midnight Oil, Johnny Marr, Beth Hart und dem vierten Soloalbum von Pearl-Jam-Kreativkopf Eddie Vedder.
Am letzten Februar-Wochenende wird die lange Geduld von Fans von Tears For Fears mit einer grandiosen, neuen Platte belohnt. Roland Orzabal und Curt Smith ließen sich geschlagene 17 Jahre Zeit, um einen würdigen Nachfolger für „Everybody Loves A Happy Ending“ aufzunehmen. Dagegen nehmen sich die 14 Jahre beinahe kurz aus, die The Cure fürs Zusammenstellen neuen Materials brauchten, das dem vernehmen nach im Spätsommer/Herbst erscheinen soll. Der Kajalstift darf entsprechend schon mal von Herren mittleren Alters aus der Kommode gezogen werden, um den Goth-Rock-Helden auch äußerlich huldigen zu können.
Mit nunmehr 20 Jahren ohne neue Songsammlung auf Albumlänge lässt Peter Gabriel selbst seine Busenfreundin Kate Bush relativ produktiv erscheinen. Aber 2022 soll dann endlich sein erstes neues Studiowerk mit ausschließlich frischen Stücken seit „Up“ erscheinen, das 2002 für gemäßigtes Hüpfen im riesigen Aufblasball sorgte. Angeblich arbeitet Gabriel bereits an einer neuen Bühnenshow, die vermutlich altersgerecht ausfallen wird. Immerhin zählt der Wegbereiter des Begriffs Weltmusik bald auch schon 72 Lenze. Ob es genannte Kate Bush in diesem Jahr schafft, ihrer elf Jahre alten Winterplatte ein würdiges Geschwisterchen folgen zu lassen, steht derweil nach wie vor in den Sternen geschrieben.
Die Polterbrüder von Rammstein hingegen nutzten ihre erzwungene Live-Pause zum Aufnehmen eines neuen Albums, das voraussichtlich schon im Frühjahr die gewohnten Millionen einspielen wird. Im März schickt sich außerdem der belgische Popstar Stromae an, mit einer neuen Mischung aus HipHop, Elektronik, Songstruktur und Avantgarde-Pop zu überraschen. Ihm folgt im gleichen Monat Schrullig-Schönes von Dolly Parton, Radiotaugliches von Bryan Adams und Abenteuerliches von Placebo.
Apropos abenteuerlich. Weezer sollen angeblich gleich vier neue Platten am Start haben, die uns 2022 die Zeit vertreiben oder wahlweise die Haare raufen lassen könnten. Auch Jack White beweist mit zwei aufeinanderfolgenden Alben gesteigerte Kreativität. Anfang April erscheint sein krachender Garage-Rock-Neuling „Fear Of The Dawn“, dem Ende Juli der Country-Folk-Ausflug „Entering Heaven Alive“ folgen soll. Die englische Indie-Band Bloc Party dürften im April mit dem elektrisierenden „Alpha Games“ ihre Rückkehr zur Rockmusik markieren. Liam Gallagher, der ewige Zoffbruder von Noel, wartet im Mai mit „C’mon You Know“ auf. Einen Monat später steht mit „Closure/Continuation“ die Rückkehr von Porcupine Tree, der Band des englischen Prog-Rock-Alleskönners Steven Wilson an.
Wer gerne Musik in deutscher Sprache hört – poppig oder gerappt –, darf sich auf Neuigkeiten von Nico Suave, den Fantastischen Vier, Casper, Ferris MC und Tim Bendzko freuen. Spätestens vor der Weihnachtssaison 2022 dürften außerdem vorangekündigte Platten von Janet Jackson, Beyoncé, den Artic Monkeys, Snoop Dogg, Sade, Sigur Rós, Rhianna, den Red Hot Chili Peppers, Morrissey, Kasabian, John Cale und Busta Rhymes in den Läden stehen.
Allen gemeinsam wird das Erscheinen auf verschiedenen Formaten sein, ganz sicher aber auf Vinyl. Die gute alte Langspielplatte sieht der Bundesverband Musikindustrie weiterhin auf Expansionskurs. Vollmundig behaupteten die Verbandsleute, dass Vinyl im ersten Halbjahr 2021 einen „wahren Höhenflug“ erlebte und sich mit 5,9 Prozent Marktanteil den Umsätzen von CDs angenähert hatte, die mit 14,5 Prozent weiterhin das führende Format bei physischen Tonträgern blieb. Allerdings sind solche Prozentzahlen mit Vorsicht zu genießen beziehungsweise differenziert zu betrachten. Die Marktanteile werden nämlich anhand von Umsatzvolumen errechnet, sprich: am Endverbraucherpreis inklusive Mehrwertsteuer bewertet. Dabei hakt es dann doch gewaltig, denn ein Vinyl-Album ist bisweilen fast doppelt so teuer wie dessen CD-Pendant.
Jüngstes Beispiel: „Dunkel“, das aktuelle Nummer-1-Album von Die Ärzte. Während die CD-Variante inklusive Girlanden-Beigabe für ungefähr 22 Euro zu haben ist, schlägt das Doppel-Vinyl-Album, ebenfalls mit Girlanden-Gimmick versehen, mit rund 45 Euro zu Buche. Die Preislage für Vinyl wird wiederum nicht etwa von gierigen Rockstars vorgegeben. Vinyl ist in der Herstellung per se teurer als eine CD. Darüber hinaus lassen sich die wenigen noch verbliebenen oder wieder ins Leben gerufenen Vinyl-Presswerke ihre Dienste gut bezahlen. „Optimal Media“ stellt in Mecklenburg-Vorpommern das Gros des weltweiten Vinyl-Bedarfs her, während mit der „Schallplattenfabrik Pallas“, die im niedersächsischen Diepholz angesiedelt ist, ein weiteres deutsches Unternehmen weltweit die Nase vorn hat im Herstellen des „schwarzen Golds“.
Der Musik selbst ist der hier und da vorlaut ausgerufene „Krieg der Tonträgerformate“ indes egal. Musik will auch 2022 vor allem fühlen lassen, Trost spenden, unterhalten oder Gedankengänge anregen.