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Aachen: „Made in Utrecht“: Jede Figur trägt eine Geschichte in sich

Aachen : „Made in Utrecht“: Jede Figur trägt eine Geschichte in sich

Erhaben drapiert auf Sockeln zwischen transparent-blauen Tüchern, einzeln wirkungsvoll ins Licht gesetzt: 90 Meisterwerke mittelalterlicher Bildhauerkunst, entstanden zwischen 1430 und 1530, präsentiert das Suermondt-Ludwig-Museum ab Mittwoch, 17 Uhr, in stimmungsvoller Atmosphäre.

Mit „Made in Utrecht“ erobert das Aachener Museum zugleich ein selbst im Ursprungsland der kostbaren Skulpturen vernachlässigtes Terrain kunstgeschichtlicher Forschung. In den Niederlanden beginnt die Hochkultur erst mit dem Goldenen Zeitalter des 17. Jahrhunderts, die Epoche davor ist dem kollektiven Gedächtnis weitgehend entrissen.

Allzu nachhaltig wirkt das zerstörerische Werk der calvinistischen Bilderstürmer im ausgehenden 16. Jahrhundert bis heute nach. Erstmals überhaupt gibt es nun eine Übersichtsausstellung zur Blütezeit der Utrechter Bildhauerkunst, realisiert mit dem Utrechter Partnermuseum, dem Catharijneconvent, wo die — allerdings komplett anders arrangierte — Schau bis zum 24. Februar unter dem Titel „Dem Bildersturm entkommen“ zu sehen war.

Leihgaben aus ganz Europa

Die Leihgaben, Skulpturen aus Holz, Stein und Pfeifenton, kommen von den ersten europäischen Adressen, unter anderem dem Louvre, dem Rijksmuseum, dem Museum Schnütgen und dem Victoria und Albert Museum. Und dass die Heilige Helena (1490-1500) aus München stammt und jetzt gewissermaßen einen Ausflug in ihre alte Heimat unternommen hat, beleuchtet dabei ganz nebenbei ein besonders bitteres Kapitel der Aachener Museumsgeschichte. Die Skulptur gehörte zu der 600 Stücke umfassenden Kollektion des Kölner Restaurators und Sammlers Richard Moest, die die Stadt Aachen 1907 erworben hatte und damit den Grundstein legte für die international herausragende Bedeutung des Suermondt-Museums. Leider gaben ahnungslose Aachener Sachwalter im Jahr 1917 ganze 300 Skulpturen davon zum Verkauf in eine Auktion — so gehört die Heilige Helena heute zu den ständigen Schauobjekten des Bayerischen Nationalmuseums.

Viele der 90 Skulpturen tragen eine Geschichte in sich — buchstäblich die „Heilige Ursula und ihre Reisegefährten“ (1530). Die Figur hat ein Loch im Kopf — in dem verbirgt sie Reliquien: drei Knöchelchen, mit Zettel, „Heilige Ursula“. Das brachte die beiden Kuratoren Dagmar Preising und Michael Rief auf eine naheliegende Idee: der Heiligen Dorothea (1520-1530) aus den eigenen Beständen von fünf Utrechter Skulpturen einmal in den Kopf zu schauen — die weist nämlich an ähnlicher Stelle eine vergleichbare Bohrung auf. Ein Aachener Röntgenarzt fand sich bereit, die Heilige zu durchleuchten. Rief: „Da war aber nichts. Schade.“

Der „Jesus auf dem Esel“ (1400) wurde erst kürzlich in der niederländischen Ausgabe der vergleichbaren bayerischen Fernsehserie „Kunst und Krempel“ entdeckt, bei der Zuschauer ihre häuslichen Schätzchen begutachten lassen können. Und mit dem Bischof aus dem Jahr 1400 steuert das Suermondt-Ludwig-Museum zur Schau die einzige Silberfigur bei, die den Bildersturm und ganze Räubergenerationen danach heil überstanden hat. Weltweit eine Rarität.

So erzählt jedes Stück eine ganz besondere Geschichte, die es zu entdecken gilt bei all der frappierenden Schönheit und Kunstfertigkeit, mit der die Figuren entstanden sind. Bei der eichenhölzernen „Anbetung der Könige“ (1460) sind die hohen Herrschaften samt Gefolge gleich mit zwei Jagdfalken angerückt. Warum Josef in der Szenerie ausgesprochen missmutig aus der Wäsche blickt und sich etwas ratlos am Ohr kratzt — das Rätsel ist bislang völlig ungelöst. Aber es scheint eine Spezialität der Utrechter Künstler gewesen zu sein, das eine oder andere erzählerische Detail in ihren Werken unterzubringen. Die Heilige Anna zum Beispiel verliert im Moment der Ergriffenheit gerade einen Pantoffel. Kein Wunder, dass die Utrechter Altäre und Figuren regelrechte Exportschlager waren und ihren Weg selbst zu entfernten norwegischen Inseln am Polarkreis fanden.

Nicht gut bekam den Heiligen eines Altarretabels die eigentlich gut gemeinte Maßnahme vermeintlicher Bewahrer: Die versteckten die Holzfiguren zum Schutz vor den Bilderstürmern und mauerten sie ein — gut 300 Jahre später entdeckte man sie wieder: angefault und ziemlich angefressen von irgendeinem respektlosen Insekt.

Das alles findet sich thematisch und stilistisch gruppiert, eingefügt in die einfühlsam entworfene Ausstellungsarchitektur von Uwe Eichholz. Die Ästhetik ist überwältigend — Museumsdirektor Peter van den Brink spricht angesichts der wallenden Kleider mancher Figur von einem frühen „Catwalk“ der Kunstgeschichte und erwartet ein internationales Publikum.