Am Tag der Philosophie : Philosophin Svenja Flaßpöhler erklärt, wie tiefes Nachdenken helfen kann
Aachen/Berlin Die Welt wird immer digitaler. Technische Neuerungen bestimmen den Zeitgeist. Kein Wunder also, dass spätestens seit dem magischen Jahr 2000 die Geisteswissenschaften in die Krise geschrieben werden.
Der US-amerikanische Astrophysiker Neil deGrasse Tyson bemängelt, dass die Beschäftigung mit tiefgründigen Fragen zu einer sinnlosen Verzögerung wissenschaftlichen Fortschritts führe. Philosophie sei bedeutungslos. Doch gerade in der heutigen komplexen Zeit suchen Menschen nach Orientierung. Und die Frage danach, was ein gutes Leben ist, ist so alt wie der Mensch selbst. Svenja Flaßpöhler ist sicher, dass die Philosophie noch gebraucht wird. Das sagte die Chefredakteurin des „Philosophie Magazins“ und Autorin des Buches „Die potente Frau“ im Gespräch mit Redakteurin Madeleine Gullert anlässlich des Welttages der Philosophie am Donnerstag.
Frau Flaßpöhler, wie steht es um die Philosophie heute?
Svenja Flaßpöhler: Sehr gut, zumal die Philosophie besonders in Krisenzeiten gebraucht wird. Gerade in extrem komplexen Zeiten wie diesen suchen die Menschen nach Orientierung. Da die Religion diese Orientierung für viele nicht mehr zu geben vermag, ist die Philosophie gewissermaßen an deren Stelle getreten.
Wenn das so ist, wäre es dann richtig, Philosophie statt Religion als Pflichtfach an Schulen anzubieten?
Flaßpöhler: Durchaus. Überhaupt wäre ich für eine strengere Trennung von Kirche und Staat. Warum zahlen wir Kirchensteuer? Und weshalb wird in öffentlich-rechtlichen Sendern morgens ein religiöses Wort zum Tage gesprochen? Ein philosophisches Wort zum Tage wäre viel zeitgemäßer.
Seit wann steht die Philosophie Ihrer Meinung nach vermehrt im Fokus?
Flaßpöhler: Wir haben im letzten Jahrzehnt schwere Krisen erlebt. 2007 gab es die Finanzkrise, 2015 die sogenannte Flüchtlingskrise, weltweit gibt es ein Erstarken des Rechtspopulismus. Der demokratische Boden schwankt, es gibt eine tiefe Spaltung in der Gesellschaft. Da ist die Philosophie an vielen Fronten gefragt, und natürlich ist sie auch mit Blick auf bioethische Neuerungen und Problemkomplexe relevant. Denken Sie an die Reproduktionsmedizin, den assistierten Suizid oder die gerade heiß diskutierte Organspende, die schwierige Fragen der Philosophie des Geistes und des Leib-Seele-Dualismus berühren. Und um auf die politische Lage zurückzukommen: Es stellt sich ja immer wieder die Frage, ob man mit Rechten überhaupt reden soll. Im Kern geht es darum, wie wir Demokratie begreifen.
Was würde die Philosophie denn zu dieser Frage sagen?
Flaßpöhler: Naja, es gibt zwei Perspektiven. Die eine ist die deliberative Demokratietheorie von Jürgen Habermas, der zufolge zum Diskurs nur zugelassen werden darf, was vernünftig ist. Der politische Diskurs funktioniert laut Habermas über eine Ausgrenzung von dezidiert rechten Positionen, weil diese jenseits der Vernunft liegen und die Demokratie gefährden. Im Herzen des Habermasschen Denkens steht der Satz: „Wehret den Anfängen.“ Und das ist ja auch durchaus nachvollziehbar, man denke an Chemnitz und den Erfolg der AfD bei den Landtagswahlen. Trotzdem stellt sich die Frage, ob wir die Demokratie nicht diskursoffener denken müssen. Denn, so könnte man einwenden: Ist eine Demokratie noch eine Demokratie, die sich selbst immunisiert?
Und was ist die andere Sicht?
Flaßpöhler: Die agonale Demokratietheorie, die gegenwärtig von der belgischen Philosophin Chantal Mouffe prominent vertreten wird. Dieser Theorie zufolge muss darum gerungen werden, was vernünftig ist. Gerade die Unauflöslichkeit einander widersprechender Positionen ist für Mouffe das treibende Moment einer lebendigen Demokratie. Die Initiative von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier „Deutschland spricht“ scheint mir tatsächlich eher auf der agonalen Demokratietheorie zu beruhen, weil Steinmeier entgegengesetzte politische Lager zusammenbringen will. Auf diese Weise will er die gespaltene Gesellschaft wieder ins Gespräch bringen, ohne einfach nur zu kitten.
Man hat aber derzeit nicht das Gefühl, dass Menschen dazu bereit sind, sich andere Positionen anzuhören.
Flaßpöhler: Richtig. Ich erlebe selbst, wie sehr wir uns in unseren Weltbildern einrichten, und dass die Grenzen des eigenen politischen Lagers streng überwacht werden. Differenziertes Denken, das die Aufteilung in Links und Rechts überwindet, sich nicht einengen lassen will, hat es schwer .
Haben Sie das auch bei Ihrem Buch zur #MeToo-Debatte erlebt, weil Ihre Position – Sie plädieren dafür, Frauen nicht nur als Opfer zu sehen – nicht dem entspricht, was man von eher linken, eher feministischen Frauen erwartet?
Flaßpöhler: Ich habe viel Widerspruch, aber auch Zuspruch erhalten. Man muss sich immer fragen, ob die Kritik nicht auch Wahres trifft, nur so wird man klüger. Aber man muss Widerspruch auch aushalten können – nämlich genau dann, wenn die Gegenrede nicht überzeugt.
Heutzutage bleiben aber viele Menschen in ihrer eigenen Blase. Könnte man sagen, dass die Philosophie gebraucht, aber nicht von jedem gewollt wird?
Flaßpöhler: Ja, schon Sokrates hat Gewissheiten hinterfragt und wurde dafür ermordet. Das Hinterfragen ist das Urgeschäft der Philosophie. Ob sie gewollt wird oder nicht, sie ist wichtig. Nur durch Erschütterung können verhärtete Fronten zu bröckeln beginnen. Nur so kann Neues entstehen.
Philosophie gibt also nicht die Antworten, sondern stellt die richtigen Fragen.
Flaßpöhler: Genau. So kommt man wieder ins Denken.
Auch ans Nachdenken über Visionen für die Zukunft. Bietet die Politik den Menschen zu wenig Ideen dazu, wie wir in Zukunft leben wollen?
Flaßpöhler: Was wir in den letzten Monaten und Jahren erlebt haben, ist eine Politik des Sachzwangs. Man sieht überall die Probleme, sieht die soziale Ungerechtigkeit, sieht die ökologische Katastrophe herannahen, aber man kann angeblich nichts tun, weil die Lage nun einmal komplex ist in globalisierten Zeiten. Diese Visionslosigkeit, ja, diese Ängstlichkeit hat die AfD erst so groß gemacht, weil das Versprechen der Neurechten ist, die ersehnte Alternative zu sein. Die neue Rechte hat aber keine Visionen, sie ist nicht zukunftsorientiert, sondern vergangenheitsfixiert. Deshalb ist gerade jetzt eine visionäre Politik gefordert. Eine Politik, die den Mut hat, einen radikalen Wandel anzustoßen. Woher kommt die Kraft zur Veränderung? Woher kommt das Neue? Das sind die Fragen, die Philosophie im Innersten interessiert und die uns in Zukunft beschäftigen werden.
Bei Neuem und Fortschritt denkt man heute zunächst an Naturwissenschaften. Der Physiker Stephen Hawking sagte immer, dass die Philosophie tot sei. Warum hat er Unrecht?
Flaßpöhler: Natürlich ist es so, dass sich die Gesellschaftsutopie zu einer Technikutopie verlagert hat. Utopien werden heute im Silicon Valley gemacht. Und natürlich haben wir auch gemerkt, wie gefährlich Utopien sein können, weil sie leicht in Ideologie und Totalitarismus umschlagen. Das ist eine Warnung, die die Philosophie klar ausspricht. Diese Vorstellung von Hegel, dass man irgendwann den Weltgeist erreicht, dass Individuum und Welt versöhnt werden könnten, daran wollen und dürfen wir heute nicht mehr einfach so glauben. Der demokratische Prozess ist unabschließbar, und das ist auch ganz gesund.
Wenn Hawking in Teilen recht hat: Ersetzen die Naturwissenschaften dann die Philosophie?
Flaßpöhler: Nein, man braucht die Philosophie, um einen kritischen Blick auf die Naturwissenschaften zu wahren. Philosophie leistet genau das im Hinblick auf die bioethische Entwicklung. Nehmen Sie als Beispiel die Organspende und die doppelte Widerspruchslösung, die Gesundheitsminister Jens Spahn vorgeschlagen hat. Danach ist jeder Mensch erst einmal Organspender. Es sei denn, er widerspricht. Nun ist das Thema Organspende hochkomplex, weil sich etwa die Frage stellt, ob ein hirntoter Mensch tot ist – oder gerade stirbt? Bei einem hirntoten Menschen wird das Herz-Kreislaufsystem künstlich am Leben gehalten, um die Organe frischzuhalten. Ist dieser Zustand nun schon der Tod oder noch der Prozess des Sterbens? Und ist ein transplantiertes Herz nur neutrale Materie oder doch Träger von Identität? Darüber hinaus kann eine Bereitschaft zur Organspende auch im Konflikt stehen mit einem selbstbestimmten Tod.
Können Sie das ausführen?
Flaßpöhler: Nehmen Sie einmal an, Sie wollen nicht nach einem Unfall auf die Intensivstation, wollen nicht künstlich am Leben gehalten werden, sondern man soll Sie sterben lassen. Nun sind Sie aber auch Organspender, weil Sie vielleicht nicht daran gedacht haben, sich dagegen auszusprechen. Dann müssen Sie medizinisch versorgt werden. Die Organspende muss deshalb aus meiner Sicht etwas sein, dem ich aktiv zustimme. Es muss zwingend das Resultat eines Entscheidungsprozesses sein. Wenn Spahn sagt, dass der Mensch zunächst einmal ein Organspender ist, wenn er nicht widerspricht, nimmt er mir die grundsätzliche Verfügungsgewalt über meinen Körper. Und damit den Kern meiner Autonomie.
Wenn wir unseren Blick von der Politik abwenden: Wo werden die Philosophen noch dringend gebraucht?
Flaßpöhler: Mit Blick auf ganz konkrete Lebensfragen. Nehmen Sie die praktische Philosophie, die Fragen der Moral verhandelt, oder auch die Existenzphilosophie, die sich mit dem Dasein selbst, unserem In-die-Welt-gestellt-sein beschäftigt. Wer will ich sein? Wie will ich leben? Was ist ein gutes Leben? Ist ein gutes Leben unbedingt auch ein moralisches, wie die antiken Philosophen glaubten? Damals war das Gute auch das Gute im moralischen Sinne. Es geht um Fragen der Selbstverwirklichung, etwa unser Verhältnis zur Arbeit, um Auswege aus der Entfremdung. Das sind Fragen, die seit der Antike bis zur Gegenwart verhandelt werden. Die Frage des guten Lebens wird gerade als philosophisches Thema wiederentdeckt. Es gab eine Zeit, in der man glaubte, das sei reine Privatsache. Die Philosophie solle nichts dazu sagen. Das hat sich jetzt geändert, weil man erkannt hat, dass gesellschaftliche Fragen und Fragen des guten Lebens aufs Innerste miteinander verschränkt sind. Wir versuchen, mit dem „Philosophie Magazin“, diese Gedanken und die Philosophiegeschichte einem breiten Publikum bekanntzumachen.
Erreicht die Philosophie genug Menschen?
Flaßpöhler: Das klingt so, als müsste man Menschen erst wieder von der Philosophie überzeugen, sie von außen herantragen. In Wahrheit aber stehen wir, die einen Begriff von Zeit und Zukunft haben, immer schon mitten in philosophischen Fragen. Wozu bin ich auf der Welt? Was ist der Sinn des Lebens? Gibt es einen guten Tod? Es gibt von Natur aus ein tiefes Bedürfnis nach philosophischer Einsicht und nach neuen Denkimpulsen, das zeigt auch der große Erfolg des „Philosophie Magazins“. Und das zeigt übrigens auch die Phil-Cologne, deren Programm ich mitgestalte. Jedes Jahr besuchen mehr als 10 000 Menschen unsere Veranstaltungen.
Fehlen der Philosophie aber richtige Stars wie es einst Adorno, Sartre oder Foucault waren? Heute denkt man bei Philosophen wohl zunächst an Richard David Precht, der nun nicht der tiefgründigste ist.
Flaßpöhler: Precht ist in Deutschland der erste gewesen, der Philosophie einem breiten Publikum wieder zugänglich gemacht hat. Er greift Fragen auf, die die Menschen interessieren. Unter Akademikern gibt es so eine Neigung zum Precht-Bashing, weil man neidisch auf seinen Erfolg ist. Das ist ziemlich leicht zu durchschauen und deshalb auch nicht sonderlich ernstzunehmen.
Die universitäre Philosophie hätte es demnach selbst in der Hand, populärer zu werden. Erzählt sie keine guten Geschichten mehr?
Flaßpöhler: Philosophie darf natürlich nicht zum Event verkommen oder zum billigen Lebensratgeber. Gute Philosophie zieht Menschen eher nach oben als nach unten. Es geht weniger darum, Antworten zu geben als Fragen zu stellen.
Wie können sich Menschen, denen die Philosophie fremd ist, sich dieser annähern? Man setzt sich ja selten hin, um mal ein bisschen Kant zu lesen.
Flaßpöhler: Indem man sich das „Philosphie Magazin“ kauft natürlich. (lacht) Die Welt mit philosophischen Augen zu betrachten, das ist es, was wir machen. Und siehe da, es öffnet sich eine andere Welt.