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Aachen: Im Morgenland regiert das „schwarze Gold”

Aachen : Im Morgenland regiert das „schwarze Gold”

Muslimische Traditionen prallen auf westliches Christentum, hierarchische Rollenstrukturen auf demokratische Selbstverwirklichung, knisternde Sehnsüchte auf bindende Treueschwüre.

Es ist kaum zu glauben, dass Wolfgang Amadeus Mozarts „Entführung aus dem Serail” mit dieser Thematik bereits vor 223 Jahren in Wien seine erfolgreiche Uraufführung feierte und seitdem nichts von seiner Brisanz und Menschennähe verloren hat.

Am Wochenende hatte das Werk unter einhelligem Publikumsjubel seine Premiere im Großen Haus des Theaters Aachen. Die schlüssige Inszenierung lag in der Verantwortung von Michael Helle. Das Sinfonieorchester bestritt den Abend unter der Leitung von Jeremy Hulin.

Die Transponierung der Oper in unsere Gegenwart gelingt dem Inszenierungsteam um Michael Helle offen, geradlinig und unverkrampft. Im Bühnenbild von Hartmut Schörghofer ist eine riesige Ölpumpe in einem schlichten Marmorpalast das optische Zentrum.

Macht und Autorität des „schwarzen Goldes” im gar nicht so putzigen Morgenland setzen sich erst träge, aber dann stetig in Bewegung, wenn der Countdown zur Flucht der europäischen Sklavinnen beginnt, wenn Orient und Okzident tragisch realistisch aufeinanderprallen, wenn Konstanze sich endgültig zwischen der erotischen Exotik des Bassa und der moralisch strukturierten Welt ihres Verlobten Belmonte entscheiden muss.

Helle entwickelt seine Personenspezifizierungen aus den psychologischen Spannungen, die Mozart so unverwechselbar in die unterbewusste Empfindungswelt seiner Musik eingebaut hat. Einziger Wermutstropfen in dieser beglückenden Mozart-Adaption ist die linkslastige Anordnung des Bühnengeschehens, die den optischen und akustischen Genuss stellenweise stark beeinträchtigt.

Bläser zu laut

Mit welch ruhigem Biss und hellhöriger Differenzierung Jeremy Hulin seine „Entführung” vermutlich analysieren wollte, wurde überzeugend in den reinen Instrumentalstücken präsentiert. Doch das Orchester schien insgesamt die Anforderungen der „Entführung” noch unterschätzt zu haben: Die Bläser intonierten durchweg zu laut, und der rhythmischen Koordination zwischen Bühne und Orchestergraben fehlte es gelegentlich an Sicherheit und autoritärer Sensibilität.

Das Solistenensemble präsentiert sich in einer glücklich machenden Synthese von musikalischer Beherrschung der Partie und optischer Typ-Entsprechung. Die Konstanze der Svetlana Doneva steigert sich von schüchterner Zartheit zu hell timbrierten Koloraturkapriolen und lässt anrührend teilhaben an den zwiespältigen Gefühlen einer von zwei Männern begehrten Frau.

Als klassischer Mozarttenor entpuppt sich Donat Havar als Belmonte. Seine sanft leuchtende Stimmfarbe und die ausgewogene Linienführung zeichnen ihn aus als einen überzeugenden Vertreter für den Mozartschen Operntypus des „diszipliniert Liebenden”.

Claudius Muth als Osmin verschenkt noch einige Effekte seiner Partie durch rhythmische Nervosität, veranschaulicht jedoch klangschön orgelnd mit den mächtigen Tiefen seines beweglichen Basses die Denkweise des türkischen Serailaufsehers, der mit dem Selbstbewusstsein der temperamentvollen Blonde hoffnungslos überfordert ist.

Agnete Munk Rasmussen gelingt es wohltuend mit warmer Stimmfarbe und höchst furiosen Spitzentönen, nicht in das Image der zwitschernd neckischen, blonden Soubrette zu verfallen.

Als Pedrillo darf Andreas Joost, Paul Esterhazys erklärte „Allzweckwaffe”, seinen Sprechtext locker und genau pointiert an den heutigen Duktus anpassen und vermeidet musikalisch jede heldische Attitüde zugunsten einer jungenhaften Natürlichkeit.

Der Chor demonstriert nicht nur Glanz und Schatten der türkischen Modewelt in den Kostümen von Renate Schwietert, sondern überzeugt durch Ausgewogenheit und dynamische Effektbeherrschung.

Stephan Ullrich nutzt die Chance der exponierten Sprechrolle des Bassa Selim, verblüfft durch jugendliche Autorität und Attraktivität, eine natürlich schnelle und zugleich wortverständliche Deklamation und holt den Bassa mit seinem humanistischen Gedankengut vom Thron der Unnahbarkeit.

Die Aachener „Entführung” liefert den erfreulichen Beweis dafür, dass es tatsächlich möglich ist, eine Inszenierung für werktreue Mozartliebhaber und Fans des modernen Regietheaters zu produzieren, die Entspannung und Anspruch zugleich anbietet und die für Theaterfreunde jeden Alters die richtige Sprache spricht.