Weihnachten und Philosophie: Weltretter : Freiheit heißt Verantwortung
Serie Im letzten Teil unserer weihnachtlichen Philosophie-Serie denkt Carmen Krämer über den „Weltretter“ nach.
Weltweit feiern Menschen am 24. Dezember die Ankunft des Jesuskindes, des nach christlichem Glauben von Gott gesandten Erlösers. Bereits seit seiner Geburt wird ihm die Rolle des „Weltretters“ zugeschrieben: „Die Hirten fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren.“ (Lukas 2, 9-11) Oftmals dargestellt mit einem Heiligenschein, der Stärke, Kraft, das Göttliche oder die Erleuchtung symbolisiert, ist Jesus Geburt seit jeher mit Freude und Hoffnung für die Menschen verbunden. Für Jesus selbst bedeutete sein Leben auf Erden jedoch die Übernahme einer großen Verantwortung, mit der er zum Vorbild für die Menschen wurde.
Wird heute die Geburt eines neuen Menschen verkündet, überwiegt in der Regel ebenfalls die Hoffnung und die Freude derjenigen, deren Leben er künftig bereichern wird. Und auch heute ist die Geburt eines Kindes mit zahlreichen Überlegungen zur Verantwortung verknüpft. Lässt sich angesichts der schwierigen Lage in der Welt und der stetig wachsenden Bevölkerung zunächst etwa die Frage stellen, ob es überhaupt richtig ist, Kinder zu bekommen, beziehen sich mit der Geburt eines Kindes die Fragen der Verantwortung auf die elterliche Fürsorge und die gesellschaftlichen Strukturen, in denen es aufwachsen soll.
Beide – das Verhalten der Eltern beziehungsweise derjenigen Personen im direkten Umfeld des Kindes und die gesellschaftliche Ordnung – bestimmen darüber mit, ob und inwiefern aus dem Kind selbst eine verantwortungsvolle Persönlichkeit wird. Werden ihm schon im Kindesalter Achtsamkeit, Fürsorge, Toleranz und Empathie vorgelebt und wird ihm beigebracht, sorgsam mit der Umwelt, mit anderen Lebewesen und Ressourcen umzugehen, so ist die Chance groß, dass aus ihm ebenfalls eine verantwortungsvolle Persönlichkeit wird. Doch was bedeutet es eigentlich, eine verantwortungsvolle Person zu sein?
Freiheit und Verantwortung
Ein wichtiger Aspekt hinsichtlich der Verantwortung ist die Freiheit: Ohne Freiheit können wir keine Verantwortung übernehmen und ohne die Übernahme von Verantwortung ist ein Leben in Freiheit nicht möglich. Hiermit ist insbesondere die Freiheit gemeint, sich zwischen mindestens zwei möglichen Handlungsoptionen frei entscheiden zu können. Und vor solchen Entscheidungen stehen wir ständig: Sollte ich das Fahrrad oder das Auto nehmen? In den Urlaub fliegen oder in der Region bleiben? Die Bananen in eine Plastiktüte stecken oder unverpackt kaufen? Das Geld für den Kinobesuch ausgeben oder lieber spenden? Den Konsum tierischer Produkte durch Alternativen ersetzen? Die Einfahrt zupflastern oder ein bienenfreundliches Beet anlegen? Und so weiter. Dabei gilt: Wer viel Freiheit hat, hat zugleich auch viel Verantwortung. So schreibt Lukas: „Wem aber viel gegeben wurde, von dem wird viel gefordert werden; und wem viel anvertraut wurde, von dem wird man umso mehr verlangen“ (Lukas 12,48). Und es gilt auch: wenn wir keine Verantwortung übernehmen, werden uns irgendwann zwangsläufig Grenzen gesetzt und die Freiheit genommen.
Ist es aber nun unsere Aufgabe, ähnlich wie Jesus, zum Heiland, zum Erlöser oder zum Weltretter zu werden? Wäre diese Erwartung mit Blick auf die Vielzahl der Probleme wie Klimawandel, Hungersnöte, Menschenrechtsverletzungen, Plastikverschmutzung, soziale Ungerechtigkeiten und die Pandemie nicht eine maßlose Überforderung des Einzelnen? Wenn wir die Nachrichten verfolgen, kann uns dies manchmal so vorkommen. Es schlagen uns ständig neue Schreckensmeldungen ins Gesicht, die uns an der Zukunft der Menschheit auf der Erde zweifeln lassen können. Sicher ist: Die Diskussion am heimischen Küchentisch oder an der Theke, Beschwerden und Beleidigungen im Internet, Wut und Hass oder auch das Hineinsteigern in Krisen bis hin zu einem Gefühl der Ohnmacht sind ebenso wenig eine Lösung wie die Hoffnung, dass andere sich der Problematiken schon annehmen werden.
Die Nachrichten einfach zu ignorieren, etwa mit der Begründung, dass man ja doch nichts ändern kann, ist ebenfalls nicht zu rechtfertigen. Zum einen sind die Probleme, über die berichtet wird, nicht selten durch uns mitverursacht. Gerade wir in den Industrienationen sind Profiteure einer globalen Marktwirtschaft, die mit dem Ziel des scheinbar grenzenlosen Wachstums Menschenrechtsverletzungen, die Ausbeutung und Verschmutzung der Erde und das Leid zahlreicher menschlicher und nichtmenschlicher Lebewesen in Kauf nimmt. Zum anderen ist Unwissenheit, wenn sie vermieden werden könnte, keine Entschuldigung dafür, seiner Verantwortung nicht nachzukommen.
Vielmehr liegt es sogar in unserer Verantwortung, uns die notwendigen Informationen über unsere potenziellen Handlungsfolgen einzuholen. Dieses Konzept des „schuldhaften Nichtwissens“ ist nicht nur in unserem Strafgesetzbuch festgehalten, sondern existiert bereits seit der Antike. So schreibt Aristoteles in der Nikomachischen Ethik: „Selbst die Unwissenheit bestraft das Gesetz, wenn sich herausstellt, dass man an ihr selber schuld ist.“ Unwissenheit befreit also nicht von Schuld, sofern die Unwissenheit selbst und die daraus resultierende schädliche Handlung hätten vermieden werden können.
Konsequenzen überlegen
Wenn wir also a) die Freiheit besitzen, uns zwischen verschiedenen Handlungen entscheiden und b) die Möglichkeit haben, uns über die Konsequenzen unserer Taten oder Unterlassungen informieren zu können, liegt es in unserer Verantwortung, unsere Handlungsentscheidungen sorgsam abzuwägen. Unbestritten ist dabei, dass mit Blick auf die genannten Probleme wie Klimawandel, Menschen- und Tierrechtsverletzungen oder Umweltverschmutzung niemand allein zum „Weltretter“ werden kann. Sicher ist aber auch, dass Verantwortung übernehmen bedeutet, nicht permanent an die Grenzen der Freiheit zu gehen. Dass das vielen Menschen schwerfällt, zeigt uns eindrücklich die Pandemielage: Wie oft hört man in dieser Zeit: „Wieso sollte ich denn keine Party feiern/in den Urlaub fliegen/in die Kneipe gehen, das ist doch wieder erlaubt?“
Verantwortung übernehmen heißt in der Pandemie nicht abzuwarten, bis uns neue Verbote wieder Freiheit nehmen, sondern vorab eigenständig Kontakte zu reduzieren. Und Verantwortung übernehmen mit Blick auf die anderen genannten Probleme heißt zu überlegen, was man in seinen unterschiedlichen Rollen, beispielsweise als Konsument, als Eltern oder als Unternehmen schon jetzt zur Verbesserung der Situation tun kann. Damit uns die Freiheit, unsere Entscheidungen eigenständig zu treffen, nicht irgendwann genommen wird. So bedeuten Reduktion oder gar der Verzicht auf beispielsweise das Autofahren, auf die Fernreise, die Plastiktüte im Supermarkt, auf den Kinobesuch, das Fleisch und den Schottergarten vielleicht zunächst Einschränkungen, die uns aber zugleich auch unsere Freiheit bewahren. Dabei kann jede und jeder von uns – wie Jesus – zum leuchtenden Vorbild werden und ihren oder seinen Beitrag zur Weltrettung leisten.