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Aachen: Familienstück „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ im Theater Aachen

Aachen : Familienstück „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ im Theater Aachen

„Bap bumm ba ba da dap bumm ba da ba da ba dap bumm ba ba da dap bumm ba da ba da ba!“ Ja, am Ende können die 800 Kehlen im Publikum heiter einstimmen. Draußen auf der Straße fisselt Novembernieseln, drinnen im Aachener Theater regnen Luftschlangen und Glitzerschnipsel.

Aber bevor bei der Premiere des Familienstücks die happyendliche Partystimmung mit Törtchen, Lollis und Strohhalmdrinks für unbeschwertes Sommerferien-Feeling sorgt, haben die kleinen Zuschauer doch auch Schwarzbrot zu knabbern. Denn „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ nach dem Bestseller von Andreas Steinhöfel bietet nicht nur zarte Songs und wortspielwitzigen Spaß, sondern ebenfalls viel Tiefgang.

Wenn alle Jahre wieder im Endspurt auf Weihnachten zu die Pippis, Zoras, Momos und Ronjas, die gestiefelten Kater und Lebkuchenmänner die Bühnen bevölkern, ist neben den ganzen starken Mädels und Märchenfiguren ein bisschen Abwechslung mit zwei heutigen (Anti-)Helden sehr willkommen. Die beiden schrägen Kerlchen, der „tiefbegabte“ Rico und das „Superhirn“ Oskar, die sich seit der Dresdener Uraufführung der Theaterfassung von Felicitas Loewe im Jahr 2009 einen festen Platz in den Spielplänen erobert haben, bringen mit ihrer Kidnapper-Jagd die Bewohner eines Berliner Mietshauses zum Rotieren.

Auf der Aachener Drehbühne wortwörtlich: Ausstatterin Iris Kraft hat die fünf Stockwerke aus Kreuzberg in eine Art Fantasieland verwandelt, entsprungen wie aus Ricos Kopf. Auf zwei Etagen bieten sechs schief aufeinandergestellte Boxen liebevoll detailreich ausstaffierte Einblicke: von hinten in einen herrlich angeranzten Hof zwischen Müllcontainer und Briefkästen, von vorne in nur wenige Quadratmeter große Wohnwaben. Da schaukelt etwa die für Rico treu sorgende Frau Dahling durchs Schlaraffenland, in dem Milch und Ketchup von der Decke wachsen. Und Rico selbst schläft mit seiner Mutter in einem grünen Zelt.

Der Elfjährige nennt sich „tiefbegabt“, weil die Gedanken in seinem Kopf schon mal so wild durcheinanderklackern wie die Kugeln in einer Bingotrommel. Das wird von Regisseurin Lilli-Hannah Hoepner durch eine Videoprojektion schön anschaulich gemacht: Wenn Rico erzählt, dass er eine Orientierung wie eine besoffene Brieftaube habe, wirbeln hinter ihm riesige Ampelmännchen und Verkehrsschilder. Den Langsamdenker lässt Alexander Wanat mit geballten Fäusten und Augenzwinkern sehr sympathisch auf dem Schlauch stehen.

Ein Lolli für den Bösewicht

Mit einem „Männo“ verkrümelt er sich auch schon mal in einer Reisetasche, wenn seine Mama (Franziska Arndt mit viel Herz und Glitzer) ihn allein lassen muss. Dagegen hält Schnellmerker Oskar (Ognjen Koldzic), wie ein Opa in beige Weste und blauer Bundfaltenhose, tiefernst hochtrabende Referate über Vanille oder Piranhas.

Die Details und Zwischentöne sind die Stärke der Inszenierung, die ohne allzu aufdringliche Toleranz-Botschaft auskommt. Klar werden die gegensätzlichen Helden Freunde und lösen den Kindesentführer-Fall. Aber das Stück ist hier nicht nur Krimi und Emanzipationsgeschichte, sondern vor allem eine berührende Sozialstudie voller Typen mit Ecken und Rundungen: Doris Plenert (Frau Dahling) berlinert mit schwerer Hantel und tiefem Ausschnitt als Jane Fonda des Hinterhofs; ausgepolstert im roten Overall, schlüsselklimpert und keift Philipp Manuel Rothkopf als „Sicherheitskraft“ Marrak; mit Pornobrille und Lederjacke macht Tim Knapper als „scharfe Schnitte“ Westbühl Ricos Mama Avancen; und Benedikt Voellmy löffelt als „Stinketyp“ Fitzke in seiner Schimmelhöhle einsam Ravioli aus der Dose.

Mit rund 90 Minuten Spielzeit plus Pause bleibt die Aufführung kurzweilig, doch bei manchem etwas längeren Dialog macht sich Unruhe im Publikum breit. Ob die Produktion wirklich schon, wie das Theater meint, für Achtjährige geeignet ist? Der Verlag jedenfalls empfiehlt den Stoff für Menschen ab zehn. Themen wie Krebs, Depressionen oder abwesende Eltern sind keine leichte Kost. Die Kleineren können aber vor Begeisterung vom Klappsitz rutschen, wenn schön fiese Wörter wie „Schmierpopel“ fallen oder die zwei sanft hingetupften Songs von Malcolm Kemp erklingen, und sich zur Geisterbahnatmosphäre beim Showdown gemäßigt gruseln.

Wer der Bösewicht ist, wird hier natürlich nicht verraten. Nur so viel: Auch für ihn hat die Regisseurin ein Herz. Schon in Ketten bekommt er noch einen Lolli ab.