1. Kultur

Aachen: Einzigartig und hochambitioniert: Das NRW-Kinderorchester

Aachen : Einzigartig und hochambitioniert: Das NRW-Kinderorchester

„Es geht weiter. Konzentration!“, unterbricht Dirigentin Silke Löhr den Klangteppich aus Plappern und Klimpern, der sich in der kurzen Probenpause im Depot an der Talstraße ausgebreitet hat. Die 75 jungen Musiker des Kinderorchesters NRW schauen wieder auf ihre Noten, halten die Instrumente bereit, passen ihren Einsatz ab. Konzentration. Ein letztes Mal wird Ravels „Bolero“ geprobt.

In einer guten Stunde soll es losgehen, das Konzert aus dem aktuellen Herbstprogramm des Orchesters. Schon jetzt beginnen stolze Eltern, die Plätze in den vorderen Reihen einzunehmen. Zwischen Generalprobe und Konzertbeginn bleibt den Kindern aber noch Zeit, echte Musiker-Tipps auszutauschen: „Ich putze vor Konzerten immer noch einmal die Zähne — das ist besser für die Flöte.“

Kein alltägliches Instrument

Auch Emilia und Rafael atmen noch einmal kurz durch. Für den elfjährigen Rafael Bergé aus Krefeld ist die Konzertreihe „Musik und Technik“ das erste Programm, das er mit dem Kinderorchester spielt. Sollte er aufgeregt sein, merkt man es ihm nicht an: „Ich mag es, in so einem großen Orchester zu spielen, und ich mag die laute Musik um mich herum“, sagt Rafael. Seit sieben Jahren spielt er Cello. „Meine Mutter wollte, dass ich Geige spiele — aber wir sind sechs Kinder, und vier davon spielen schon Geige.“ Dass er ein Instrument lernen würde, sei schon immer klargewesen: Auch die Mutter spielt Geige, der Vater Bratsche und Cembalo.

Emilia Jalochas musikalische Karriere sollte zunächst mit der Blockflöte beginnen. „Das hat mir aber überhaupt keinen Spaß gemacht“, sagt die 14-jährige Kölnerin. Beim „Instrumentenkarussell“ in der Musikschule habe sie dann aber das Fagott kennengelernt. Und das sei kein alltägliches Instrument: „Besonderen Spaß macht es mir, mit den verschiedenen Klängen und Klangfarben zu spielen“, erklärt sie.

Trainiert und getuned

Zum Start des Familienkonzertes „Musik und Technik“ erklingt eine Stimme wie aus dem Cockpit: „Trainingseinheiten am Niederrhein absolviert?“ — „Trainingseinheiten absolviert“, kommt die Antwort. Das Kinderorchester ist einzigartig in Deutschland: Nur Nordrhein-Westfalen hat ein eigenes Landesorchester für junge Musiker im Alter von zehn bis 14 Jahren. Die Mitglieder kommen aus ganz NRW. Für die gemeinsamen Proben treffen sie sich unter anderem an der Musikschule Bochum und der Robert-Schuman-Musikschule in Düsseldorf. Mit 96.000 Euro unterstützt das Land das Orchester jedes Jahr.

Zweimal jährlich entwickelt das Ensemble ein vollständiges Konzertprogramm. In der Vorbereitungsphase proben die Kinder an jedem Wochenende, in den Herbst- und Osterferien findet eine intensive gemeinsame Probenwoche statt — die „Trainingseinheiten“. Alle Mitglieder des Ensembles sind hochbegabte Nachwuchstalente, über ein Auswahlverfahren können sie sich für einen Platz qualifizieren. Maximal acht Programme kann jedes Kind mitgestalten, spätestens mit 14 endet die Zeit im Kinderorchester. Die grundsätzliche Offenheit und Unvoreingenommenheit der Hörgewohnheiten soll die gemeinsame Arbeit im Ensemble fördern, verschiedene Klänge, Genres und Stile erlebbar machen.

Musik auf so hohem Niveau zu spielen erfordert unermüdlichen Einsatz: Rafael und Emilia üben beide etwa eine bis eineinhalb Stunden am Tag. Rafael sagt, dass aber auch noch genug Zeit für anderes bleibt: „Es kommt immer darauf an, was sonst noch ansteht“, sagt er. „Ich spiele auch noch Fußball und Klavier und lese gerne.“

„Instrumente getuned?“, fragt die Stimme aus dem Cockpit. „Instrumente sind getuned!“, kommt die Antwort. Um ein Programm zusammenzustellen, dass musikalisch auf so hohem Niveau liegt, muss auch die Besetzung hochambitioniert sein: „Bei uns sind alle Instrumente vertreten, die auch in einem Erwachsenen-Orchester zu hören sind“, sagt Lena Zimmer, Projektleiterin des Kinderorchesters. Selbst sehr anspruchsvolle Instrumente wie Oboe, Fagott, Tuba und Posaune sind dabei. Insbesondere diese Instrumente werden meist erst später erlernt, allein schon wegen der körperlichen Voraussetzungen, erklärt Zimmer.

„Adrenalin hochgefahren“

Auch Rafael hatte zunächst mit der Daumenhaltung am Cello zu kämpfen. „Der Daumen muss immer auf zwei Saiten liegen“, erklärt er. Emilia musste sich zunächst an das Gewicht des Fagotts gewöhnen. „Als ich vom kleinen Fagottino auf das normalgroße Fagott gewechselt bin, mussten sich meine Finger noch einmal komplett umstellen“, erklärt sie.

„Adrenalin hochgefahren?“ — „Adrenalin bis zum Anschlag hochgefahren!“ Das 75-köpfige Ensemble ist bereit, der Zuschauerraum im Depot ist voll. „Kinderorchester ready for launch in 10 — 9 — 8...“. Wie eng Musik und Technik zusammenhängen können, zeigt das Kinderorchester dann eindrucksvoll und mit großer Spielfreude. Bei „The Great Locomotive Chase“ von Robert W. Smith und Eduard Strausse_SSRq „Mit Dampf“ kann man die Dampflok herbeirollen und -rattern hören, der zweite Satz aus Beethovens 8. Symphonie verwirrt den Hörer mit abrupten Tempowechseln, Disharmonien und einem scheinbaren Spieluhr-Rhythmus.

Aus dem Bolero gelingt dem Orchester die gewitzte Überleitung zur vom Publikum eingeforderten Zugabe: Leroy Andersons „The ­Typewriter“ — mit den per Mikrofon abgenommenen Geräuschen einer Schreibmaschine, einer Glocke und einer Ratsche. Das Ensemble spielt kraftvoll und sehr präzise — die noch in der Probe geforderte Konzentration ist zu 100 Prozent da. Die Zuschauer quittieren das mit anhaltendem Applaus und Standing Ovations.

Rafael und Emilia wollen der Musik treu bleiben: Beide wollen später einmal Musik studieren. „Seit ich vier bin, habe ich mir das als klares Ziel gesetzt“, sagt Emilia. Auf die Frage nach anderen Hobbys neben dem Orchester gibt es daher nur eine Antwort: „Klavier spielen.“